Mach keine Geschichten!
Verfasser: Friederike Hölscher, Günter Hölscher, Judith Antonowitsch, Oliver H. Herde, Oliver Hohlstein, Volker Weinzheimer und andere
OHo
Twina hat den anderen ebenfalls zugeprostet. Den Neuankömmling nimmt sie nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, da erwähnt die Kleine Guttlis Geschichte und Twinas Aufmerksamkeit ist wieder geweckt. "Nun, die Geschichte war noch nicht zu Ende, vielleicht möchtest du sie noch erzählen bis der Tag endgültig zur Neige geht..." Ob die Zeit dafür überhaupt noch reichen wird, fragt sich Twina dabei.
GH
Nun passieren wieder mehrere Dinge gleichzeitig, die mit ihr zu tun haben, bermerkt die Alte. So dass sie kaum hinterherkommt.
"Ja, der gehört unbedingt dazu", bricht das Weib in ein eifriges Strahlen aus. "Mein Vater pflegte zu sagen, auf eine richtige Linsensuppe, die zwei Tage gegangen ist, kann man den Gutsherren einladen. Hat man Würst und Speck dazu, reicht es für einen Herzog. Und wenn man dann noch mit Essig gesegnet ist, dann könne wohl selbst ein König nichts gegen eine solche Gaumenfreude haben!"
Die Häuslerin nickt bedächtig zur kleinen Tygrid. "Mit der Geschichte haben wir auf dich gewartet, was denkst du! Und es ist ja auch nur noch der Schluss übrig zu erzählen!"
OHH
Für einen Moment liegt Widumir der Kehrreim des vorhin begonnenen Liedes in den Ohren und breitet sich bis zu den Lippen hinab aus. Doch wenn jetzt Geschichten erzählt werden sollen, bleibt er lieber still. Dem Ohrwurm ist dies allerdings gleichgültig.
RB
Die dunklen Augen der Schauspielerin folgen dem Geweihten, bis er den Mantel ausgezogen hat. Die Ohren lauschen dagegen weiterhin dem, was am Tisch gesprochen wird. Richtig, Guttli hatte ja vorhin erzählt, einzelne Fetzen davon waren bis zu Jana vorgedrungen. Vielleicht kommt sie ja noch rein. Ansonsten muss Widumir sie morgen unterwegs erzählen. Das wird dann zwar eine völlig andere Geschichte, aber sicher lustig. Also entlässt die junge Frau den Geweihten aus ihrer Aufmerksamkeit und blickt stattdessen Guttli erwartungsvoll an.
GH
Schweigen. Die Alte sieht sich in der Runde um; dass die Rede auf ihre noch nicht abgeschlossene Geschichte gekommen ist, scheint Erwartungen geweckt zu haben.
"Natürlich erzähle ich Euch gerne, wie es für Joline und Jannis, für Jolines Vater Luven, für Tycho und Meja, und alle die anderen, die damals hier im Dorf so wunderliche Sachen erlebt haben, weitergegangen ist. Damals war ich aber noch ein Kind, und kann mich kaum an die Dinge selbst erinnern, wohl aber an das, was man sich hinterher von ihnen erzählt hat. Und all dies ist wahr, auch wenn es sich vielleicht nicht ganz so zugetragen hat, wie ich es Euch wiedergebe. Denn das Wichtigste sind die Erinnerungen. Die bleiben und erteilen uns ihre Lehren, wenn die Tatsachen längst vergessen sind." Hier macht sie eine Pause und nimmt einen Schluck Wein.
"Doch vielleicht mögt Ihr zuerst an das erinnert werden, was ich an Geschehnissen schon berichtet habe. Und danach müsste ich vielleicht noch einmal kurz verschwinden, während Ihr Euch neue Getränke bestellt." Erneut blickt die Häuslerin um sich, ob ihr Vorschlag auch den anderen am Tisch behagt.
RB
'Oha, das wird kompliziert', sorgt sich Jana, als Guttli in kurzer Folge so viele Namen nennt. Eigentlich kann sie sich Namen gut merken, aber so ganz ohne Vorstellung ist es doch schwierig, sie zuzuordnen. So freut sie sich besonders, als die Erzählerin eine Erinnerung anbietet. "Das ist eine tolle Idee, denn es würde mir den Einstieg in die Geschichte sehr erleichtern", antwortet sie der Alten freundlich. "Und Flynn sicher auch", fügt sie dann noch hinzu.
JA
Tygrid strahlt. "Wir sollten aber mit dem Ende der Geschichte auf Posh warten, sonst verpasst er es noch!"
OHH
Wie rücksichtsvoll und aufmerksam alle miteinander umgehehen, entlockt Widumir ein vergnügtes Schmunzeln. Nicht, dass er daran etwas auszusetzen hätte - er ist es nur nicht unbedingt gewöhnt.
Gegen eine Wiederholung gibt es wohl nichts einzuwenden, da auch er nur Bruchstücke mitbekommen hat. Fehlende Stücke kann man allerdings auch in der Phantasie ergänzen und sich ganz eigene Lehren daraus zusammenlegen, wie Guttli es ja geradezu vorschlägt.
FH
Begeistert nickt die Spielfrau zu den um sie herum kundgetanen Erwägungen. "Vielleicht", schlägt sie vor, "könnten ja die, welche den Anfang der Geschichte gehört haben, das bisher Geschehene erzählen, während du in aller Ruhe das deinige erledigst, Mütterchen Guttli?" Der Blick der Flötenspielerin bleibt dabei vor allem an Twina und ihrer Tochter hängen.
OHo
Twina schaut zu der Bardin hinüber. "Nun, das können wir wohl tun. Bis wir damit fertig sind, könnte Posch ja auch wieder da sein." An Tygrid gewandt fügt sie hinzu: "Was meinst du, meine Kleine?"
GH
Die Guttli nickt, erst langsam und nachdenklich, dann rasch einstimmend. "Das ist ein kluger Einfall", bestätigt sie. Dabei schaut sie die pfiffige Flöterin aus fröhlich glänzenden Augen an. "Wenn man nämlich selber etwas Gehörtes noch einmal erzählen muss, dann erinnert man sich auch viel besser - das übt das Gedächtnis. Das gilt zumindest für solche Alten, wie mich. Dagegen bin ich sicher, dass Twina und Tygrid so wohlerfahren im Behalten von Geschichten sind, dass sie ganz von selbst alles das wiedergeben können, was ich berichtet habe, nicht wahr?"
Der Blick der Häuslerin ist zu der Skaldin und ihrer Tochter gewandert, kehrt dann aber zu der Musikantin zurück. "Darf ich die weitgereiste Bardin aus dem Norden wohl noch einmal um ihren Namen bitten, damit ich auch weiß, wer auf so gute Ideen kommt?" Dabei erhebt sie sich halb.
FH
"Ich bin Flynn", gibt die Musikantin ebenso fröhlich zurück. "Und denk nur, Flynn, das bin ich. Flynn Ceilidhghan aus dem Seenland - wo nämlich alle Ceilidhghans herkommen - und Posh, das ist mein Bruder. Es gibt aber noch viel mehr von uns", setzt sie nicht ohne Stolz in der Stimme hinzu.
JA
Tygrid schaut zu der Flöterin, dann zu Guttli, dann grinst sie ihre Mutter an. "Ja, das ist wie beim alten Hein in Olport. Da war ich mit Vater mal. Der erzählte immer abends den älteren Kindern eine Geschichte, und die sollten sie dann am nächsten Tag den kleineren weitergeben. Das macht Spaß!"
GH
"Flynn kann ich mir merken", bemerkt die Alte fröhlich, während sie sich ganz erhebt und etwas strafft, "das ist hübsch kurz! Und Posch, das hat sich hier oben auch gut festgesetzt!" Dabei deutet sie auf ihre Stirn. "Es ist nicht mehr gar so viel, was da haften bleibt, wenn man alt wird. Ich fürchte Källigän, das ist ein bisschen schwieriger zu behalten. Und ich spreche es wahrscheinlich auch nicht richtig aus für Flynns Ohren. Aber der Vorname genügt ja auch, nicht wahr?"
Sie hält inne. "Ja", sagt sie, "da bin ich mal gespannt, ob Ihr noch alles zusammen bekommt! Ich will mich sputen. Und wenn Ihr etwas nicht mehr wisst, könnt Ihr mich ja fragen, wenn ich wiederkomme!"
Und damit wendet sie sich auch schon ab und strebt dem Ausgang entgegen.
RB
"Das klingt wie der alte Harg, der bei uns immer am Hafen saß, der stammte auch aus Thorwal. Der hat immer schauerliche Abenteuergeschichten erzählt und war angeblich selber mal Pirat. Aber mein Vater war immer ganz nett zu ihm, obwohl er doch sonst immer Piraten bekämpft hat. Willst du dann uns Kleineren die Geschichte von Joline, Jannis, Luven und den anderen weitergeben?" nimmt die junge Frau schließlich mit einem Grinsen die Erzählung der noch jüngeren auf.
OHo
"Na dann, nur zu, meine Kleine", fordert Twina ihre Tochter auf, fortzufahren. Guttli wird derweil mit einem Winken verabschiedet.
OHH
Derweil die Kleine noch Worte sammelt, fühlt sich Widumir schon ein drittes Mal an diesem Abend an den ollen Käptn Hullheimer erinnert. Der sah allerdings ziemlich nach Pirat aus, vereinte er doch alle Klischees über diese Leute in sich wie kein anderer Seemann - zumindest äußerlich.
"Kommen in der Geschichte auch Piraten vor?" hört sich Widumir unvermittelt in die Stille hinein fragen.
JA
Tatsächlich nach den rechten Worten suchend muss Tygrid über die Frage Widumirs kichern. "Nur ein bisschen." Wieder fasst die kleine Thorwalerin sich, diesmal aber deutlich schneller als zuvor.
"Im Prinzip ist es eine tragische Liebesgeschichte, deren Ende sich noch erweisen wird. Aber man soll ja das Ende nicht vor dem Anfang erzählen." Wieder macht sie eine kleine Pause, versichert sich aber diesmal mit einem Blick der Aufmerksamkeit der Tischgesellschaft und schaut auch einmal mit einladendem Blick zu Irinio herüber.
"Die Geschichte handelt in der Zeit, als die Guttli selbst noch ein kleines Mädchen war. Die Kinder spielten gern am Bruch - das ist ein Stausee oberhalb des Mühlweihers, glaub ich - und tobten am Ufer entlang, kletterten über den Steg und das Wehr, wie Kinder das eben tun. Eines Tages fiel ein Junge ins Wasser und ging unter, konnte er doch selbst nicht schwimmen. Doch einer der älteren Jungs, Tyccho war sein Name, der hat ihn gerettet. Wunderlich war dieser Bursche, oft traurig am Wasser, aber einfühlsam und freundlich. Alle konnte er auf seine Art bezaubern und jeder hatte ihn gern. Wenn die Kinder Kummer hatten, war er für sie da. Doch war er nicht nur allen ein guter Freund, er erzählte auch, dass man seine Geschichten fast sehen konnte." Mit einem Blick zu Widumir fügt sie an: "So spielte man häufig auch, dass die Pirateninsel - eigentlich eine Sandbank - erobert und Schätze errungen werden mussten oder man auf Kaperfahrt ging.
In diesem Bruch soll es eine Wasserfrau gegeben haben. Ob sie noch heute dort wohnt, wer weiß das schon. Doch damals hatte sie sich in diesen trüben Teil des Wassers zurückgezogen, weil man zwischen den Bach, in dem ihr Liebster wohnte, und den Mühlweiher, in dem sie früher gewohnt hatte, ein Wehr gebaut hatte. Das Wehr war mit Eisen verstärkt, weswegen sie es nicht passieren konnte.
Die Kinder spielten dort unbehelligt, gern gesehen vom Müller, solange sie ihn nicht bei der Arbeit hinderten. Besonders ein Mädchen namens Meja stand ihm nahe und alle merkten, dass sie ihn wahrlich gern hatte.
Einmal fragte Tyccho sie ganz ernst: 'Was würdest du tun, wenn ich eines Tages ins Wasser fallen und nicht mehr auftauchen würde?' Meja antwortete in etwa: 'Da würde ich mich schnell auf den Steg werfen und nach deinen Beinen greifen.' 'Und wenn du sie nicht zu fassen bekommst und ich ganz weg wäre?' 'Wenn die Wasserkönigin dich dort unten gefangen hält, käme ich jeden Tag zum Ufer und würde mich beugen und meine Haare ins Wasser werfen'. Meja hatte schönes dunkelblondes Haar. 'Und so würde ich mich ganz allmählich in eine Trauerweide verwandeln. Und schließlich, wenn meine Zweige lang und fest geworden wären, dann könntest du nach ihnen greifen und an ihnen hinausklettern.'"
Tygrid schaut erneut in die Runde und nimmt einen Schluck Tee. Ganz zufrieden ist sie nicht mit der Erzählung, aber sie soll es ja kürzer fassen als die Alte.
OHH
Am Lächeln Widumirs mag man erkennen, wie zufrieden er mit der Zusammenfassung ist, da sie ihm gar nicht unbedingt wie eine solche vorkommt. Auch dass die Piraten nur sehr beiläufig erwähnt werden, stört ihn nicht weiter. Jede Geschichte hat ihr Recht, gehört zu werden. Nur die Traurigen mag er freilich nicht so gern.
JA
"Dieser Tyccho nun war kräftig genug, sich gegen Ältere durchzusetzen, konnte zudem gut auf die Jüngeren aufpassen und war gutmütig. Doch er wusste auch recht viel über die Nixe im Bruch, die alle respektvoll die 'Wasserkönigin' nannten. Doch seine Eltern kannte niemand. Er war ein Waise, war beim Jäger aufgewachsen. Obwohl er keine Geschwister hatte, meinte er einmal, dass er sich nach seinen Schwestern sehne, deswegen spielte er auch mit den Mädchen."
Ähnlich wie die Alte vorhin macht Tygrid nun eine kleine Pause, während sie sich ein wenig Tee in ihren Becher gießt und zwischen die Hände nimmt. Das Gefäß in den Handflächen leicht drehend, nimmt sie den Faden aber gekonnt wieder auf.
"Am Bruch lebten zu dieser Zeit auch der Fischer Luven mit seiner Frau Silje. Sie hatten lange keine Kinder gehabt und wünschten sich so sehr einen eingenen Spross, dass sie sich sehr über ihr spätes Glück freuten. Joline war derweilen bereits 20 Winter alt geworden. Doch soll es ein Handel zwischen Luven und der Wasserkönigin gewesen sein, die ihm als wunderschöner, großer, silbrig glänzender Fisch in Netz gegangen war. Als Geschenk dafür, dass er ihn verschonte, soll sie seiner Frau dieses Kind geschenkt haben."
RB
Gerade will Jana sich wieder Tygrid zuwenden, als die Geschichte weitergeht, da dreht sich Irinio zu ihr um und begegnet ihrem Blick. Rasch verlegt sie sich auf Pantomime: Sie deutet zuerst nach oben, wo die Zimmer sind, dann ahmt sie mit der Hand einen sprechenden Mund nach und zeigt schließlich auf Irinio. Darauf beendet sie schnell ihre Vorstellung und wendet sich wieder der Erzählerin zu.
JA
Einen Moment sortiert Tygrid noch einmal die Handlungsstränge. Dann nickt sie und setzt erneut an: "Nun, zu der Zeit also, als dieses Kind, die Joline, neun Jahre alt war, kam ein Wanderschmied ins Dorf, um das Eisen am Wehr zu erneuern. Er war ein rauer, dunkler Geselle, der dem Kinde nicht recht behagte. Doch er gab ihrer Mutter einige eiserne Angelhaken. Zuhause legte die Mutter am Abend Ruten aus, um ihren Luven am nächsten Tag mit frischem Hecht zu überraschen.
Am frühen Morgen hatte Joline dann üble Träume, dass ihre Mutter Silje von einem großen schwarzen Hecht im Netz gefangen und in den Bruch gezogen würde. Ein silberner Otter versuchte noch, sie zu retten, doch konnte er sie nicht halten. Währenddessen stand im Traume der Schmied über dem gebundenen Mädchen und lachte sie aus.
Heftig verschreckt riss sich Joline schließlich aus diesem Alp und rannte in die Küche, um die Mutter zu retten. Doch die saß bereits am Tisch und putzte einen großen grünlichschwarzen Hecht. Vom Kinde erschreckt stach sie sich aber den Haken tief in die Hand, den sie gerade aus dem Maul des Tieres ziehen wollte. Ebenfalls erschrocken und mit schmerzender Hand schimpfte Silje mit Joline, dass sie den Fisch nun am Wasser waschen solle, während sie sich die Wunde versorgte. Doch das Kind weigerte sich, den Hecht auch nur zu berühren und stammelte von seinem Traum. Doch die Mutter wollte davon nichts wissen und schickte Joline statt dessen zur Nachbarin, um Wundkräuter zu borgen."
NW
Leise, um den Lauf der Geschichte nicht zu stören, nähert sich Tesden dem neuesten Ankömmling aus dem Seenland. Fast schon verschwörerisch beugt er sich zu Flynn hinunter und flüstert: "Ihr wünschtet ein Zimmer im Schlafsaal?"
OHH
So langsam bekommt Widumir das Gefühl, hier würden zwei oder vielleicht noch mehr Geschichten erzählt. Die eine von Tücho dem Piraten und Frauenschwarm bleibt noch offen. In der anderen geht es um die Fischersleut. Ob die Frau wohl noch von dem toten Fisch verschlungen wird und ihr Mann sich dann dem Piraten anschließt? Oder eher die junge Joline, wenn der Seemann doch so beliebt bei ihrem Geschlecht ist?
JA
Die Unterbrechung durch den Wirt nimmt Tygrid durchaus zur Kenntnis und pustet sachte auf das Heißgetränk in ihrem Becher. Beim Umschauen sieht sie auch die Guttli wieder zur Türe hereinkommen. Ein leichtes Stirnrunzeln tut kund, dass sie nicht ganz glücklich mit der Situation ist.
Einen Entschluss fassend, lehnt sie sich - ein wenig altklug wirkend - mit einer gewissen Gelassenheit und wachen Augen das Geschehen um sich herum aufnehmend auf ihrem Stuhl zurück und wartet, dass der Hausherr mit Flynn alles geklärt hat.
NW
"Willkommen im Grünen Eber, Flynn aus dem Seenland. Ich bin Tesden Eberwirt." Mit diesen Worten und einem Lächeln reicht er der Bardin ein Lederstück, in das die Zahl 4 eingebrannt ist. Dann richtet er sich wieder auf, um den Fortgang der Geschichte nicht weiter zu stören und sieht noch einmal unaufdringlich in die Runde.
OHH
Die mangelnde Fortsetzung der Geschichte könnte Widumir zum Anlass nehmen, ungeduldig zu werden und entweder sie selbst weiterzuspinnen oder das Interesse zu verlieren. Dafür bieten Wirt und Bardin nun ein in zweierlei Hinsicht kurzweiliges Vergnügen. Sehr wach, das Fräulein, schnappt es doch alles auf, was sich für einen Wortwitz eignet oder schon selbst einer ist! Drum wird es freudig angeschmunzelt.
GH
"Nur weiter!" strahlt Guttli der jungen Thorwalerin ermunternd zu, während sie sich wieder auf ihren Platz setzt.
JA
Lächelnd schaut Tygrid zwischen den Zuhörern und Beistehenden umher. Dem Wirt gegenüber hebt sie nur den Becher zwischen den Händen, um ihm zu zeigen, dass sie versorgt ist. Die Guttli wird mit einem breiten Grinsen wieder begrüßt, aber ohne viele Worte, um nicht den Faden zu verlieren. Da scheinbar sonst alles geklärt ist, schaut das Mädchen nur noch einmal zur Mutter, ob die noch einen Wunsch hat, bevor sie die Erzählung wieder aufnimmt, zuckt dann aber mit den Schultern. Immerhin ist Mama ja schon selber groß!
Also, wo war sie? Achja... "Die Silje aber lag trotz der Kräuter nur ein paar Tage später mit Wundfieber darnieder. Und obwohl der hiesige Landherr noch nach seinem Heiler schickte, als er davon erfuhr, konnte sie nicht mehr gerettet werden. So wuchs Joline denn mit dem Vater allein weiter auf. Doch der Fremde schenkte ihm einen eisernen Ring, weil es ihm angeblich leid tat, dass die arme Silje sich an seinem Haken in die Hand gestochen und daran gestorben war. Er gab die Schuld den Wasserleuten, die den Fisch bestimmt verhext hätten.
Der Handwerker jedoch, dieser brummige, grobe Kerl, der das Wehr ausbesserte und das rostige Eisen durch neue Streben ersetzte und verstärkte, der hatte sich ein Mädchen im Dorf genommen. Mit ihr war er oft noch abends unterwegs und in den Büschen und es stellte sich heraus, dass er ihr ein Kind machte. Von Scham und Demut getrieben, nachdem der rüde Kerl sie hatte sitzen lassen, lief sie davon. Nur ein kleiner Knabe war einige Monde später vom Jäger im Wald zu finden, der den kleinen Kerl dann mit sich nahm und aufzog. Das war der Junge, den man Tyccho nannte."
GH
Nachdem die Guttli sich zurechtgeruckt hat, lauscht sie still und hellwach Tygrids Erzählung. Nur hier und da nickt sie in lächelndem Einverständnis.
FH
Verwundert blickt Flynn auf das Stück Leder in ihrer Hand.
OHo
Twina ist ganz und gar gefangen von der Geschichte, die ihre Tochter da zum besten gibt. Sie ignoriert alles andere um sich herum, bemerkt kaum, dass die Guttli schon wieder am Tisch angekommen ist, nickt nur grüßend in deren Richtung und dann auch dem Wirt zu, nachdem Tygrid sie so fragend angesehen hat.
Tränensaft sammelt sich in Twinas Auge, quillt dann daraus hervor und wandert in einer Kugelform ihre Wange hinab.
OHH
Von Widumir kommt bei Guttli lediglich ein freundliches Lächeln an. Auch er lauscht noch immer, aber beobachtet auch noch immer. Eines ums andere Schmunzeln umspielt seine Lippen. Als Zuschauer muss man nicht unbedingt auch bemerkt werden; ihm ist es gleich, ob er still in sich hineingrinsen kann oder dies mit jemand anderem gemeinsam tut. Für einen Moment gerät das belustigte Gefühl nun jedoch ins Wanken, als Twinas rührende Rührung auf ihn übergreift.
GH
Die Alte lächelt versonnen.
JA
Ein Schlückchen Tee, ein Blick in die Runde, ein verstohlenes Lächeln zur Alten, deren Zustimmung das Mädchen zu spüren scheint. "Das Geschehen war noch weit verworrener, doch letztlich starb Silje, als Tyccho gezeugt wurde. Ob die Teichkönigin ihre Hände im Spiel hatte und den Jungen schenkte, um das durch Eisen gestohlene Leben Siljes zu tauschen? Wer weiß das schon! Niemand versteht die Wasserleute. Vielleicht Tyccho, aber er ist nicht hier, und wir können ihn nicht fragen. Denn noch als sie im Sterben lag sprach Silje zu ihrem Liebsten Luven, dass er sich hüten sollte. Er und Joline aber seien beschützt, denn die strahlende Frau sei bei ihr und werde auf sie achten."
Erneut schweift Tygrids Blick über die Zuhörer am Tische. Noch einmal holt sie Luft, um nicht von den Tränen der Mutter außer Fassung gebracht zu werden. Doch irgend etwas sagt ihr, dass es keine Tränen der Traurigkeit sind, also fährt sie fort.
"Luven aber wurde hart, sein Herz zog sich zusammen, und er nahm es dem Wasservolk übel, dass seine Silje gegangen war. Dass der silberne Otter versucht hatte, den schwarzen Hecht zu vertreiben und Silje zu retten, ahnte er nicht. Dafür hatte der düstere Schmied seinen Verstand vergiftet und schlecht von den Neckern gesprochen. Zu seiner Tochter aber war der Fischer gütig und sanft und ließ auch die Kinder weiter am Steg spielen."
NW
Da im Moment Niemand ein dringendes Anliegen an ihn zu haben scheint, verweilt auch Tesden am Tisch der Barden und lässt sich von der Geschichte einfangen.
OHo
Mit einem Nicken quittiert Twina jeden Satz ihrer Tochter. Als wolle sie sie darin bestärken. Und ihr fallen wieder die Textzeilen des Liedes ein, das sie vorhin gesungen hat:
"Helf ihr weiter bis sie geht.
Den einen Fuß hinter den anderen,
bis sie auf eig'nen Beinen steht..."
GH
Voll Verwunderung lauscht die alte Häuslerin der Erzählung des Thorwalermädchens. Annerkennend und mit freudig glänzenden Äuglein nickt die Alte der Jungen zu.
OHH
Derweil sich silberne Otter, schwarze Hechte und farblich nicht näher benannte Fischer tummeln, nimmt sich Widumir auch weiterhin die Zeit, seine Mithörer zu beobachten. Das Gemurmel der tochterverliebten Mutter nimmt ihn nicht Wunder, sondern reizt ihn beinahe, auch sein eigenes Trinklied fortsetzend beizusteuern. Einstweilen begnügt er sich mit einem breiten Grinsen und einem neuerlichen Zuprosten und Entleeren seines Geisterbechers.
JA
Noch einen Moment schaut Tygrid sich mit abwesendem Blick um. Dann greift sie gekonnt die Erzählung wieder auf: "Nach dem Verlust ihrer Mutter war der Fischer also eigenartig, achtete sehr auf seine Tochter, doch ließ er sie der Tradition nach aufwachsen. Joline selbst war duldsam und still, half wo sie konnte und kümmerte sich um die Jüngeren. So wurde sie älter, reifte zu einer hübschen Frau heran. Doch keinem Mann schenkte sie mehr Aufmerksamkeit als ihrem Vater, wählte keinen Mann und schlug Angebote standhaft aus, bevor sie auch nur kamen.
Doch eines Tages, während in Jolines zwanzigstem Frühling Vorbereitungen für eine Hochzeitsfeier und die letzten Arbeiten der Aussaat getan wurden, schallte es schräg aus dem Walde zu den Kindern herüber:
'Schrumm, schrumm - wer sagt, es sei dumm,
statt richtig zu spielen, auch einmal krumm!
Schräg oder leise,
hoch oder weise',
liess sich eine wohlklingende Jungmännerstimme aus dem Dickicht hören, aber - o weh - begleitet von recht schräge klingenden Fiedelsaiten.
'Ich weiss es nie,
wie mein Lied gerät
auf der Reise.
Und wenn ich es weiss,
ist es zu spät, dann regnet es Prügel
- oder Met.
Mir ist's einerlei,
ich bin so frei -
denn ich bin der Jumcarli!'"
Dabei ahmt die junge Kinderstimme nicht nur gekonnt die Worte der alten Guttli nach, sondern bringt es tatsächlich auch fertig, die schrägen Töne der Fidel anzudeuten!
OHH
Dieser Jumcarli scheint ein Kerl nach Widumirs Geschmack zu sein. Schon vom Namen über den lustigen Text bis hin zum allgemeinen Auftreten könnte er glatt aus der - freilich entfernteren - Verwandtschaft stammen. Entsprechend wach beugt sich Widumir nun vor über den Tisch, auf dass er ja nichts verpassen möge. Nur schwer kann er Fragen über das Woher und Wohin Jumcarlis unterdrücken, welche hoffentlich bald beantwortet werden. Dabei vergisst er für den Moment, wie lange all das Geschehen schon her sein muss.
GH
"Das ist ja geradezu schockierend!" entweicht dem Mund des Weibes, ohne dass es dies verhindern könnte oder auch wollte.
VW
Vorsichtig stellt die Magd den Apfelmost vor den jungen Mann, dann blickt sie zur Bardin. "Hier ist die Linsensuppe. Allerdings ist die Wanne jetzt auch wieder frei. Wenn Ihr zuerst baden wollt, stelle ich die Suppe so lange noch mal warm."
JA
Die Bemerkung der Alten lässt Tygrid lächeln. Noch einmal holt sie tief Luft und setzt dann mit der Erzählung fort: "Nun, der junge Mann, der aus dem Walde trat, war schon ein bunter und fröhlicher Geselle. Er habe das Spiel auf dem Wasser gelernt und deswegen seien seine Töne so schief, wenn er durstig sei, meinte er. Nach einer kurzen Erfrischung durch einen Schwall Wasser über dem Kopf spielte er auf und ließ die jungen Frauen und Kinder tanzen. Nur Joline stand dabei und schaute zu. Sie war von seinem Anblick gebannt und er hatte sie ebenfalls bemerkt. Es war, als habe den beiden jemand ein Band um die Brust gelegt miteinander verknüpft, so fühlten sie sich einander nahe.
Nach einer Weile ließ er die Vorbereitungen zum Fest weitergehen, blieb aber im Dorfe und wurde von Tyccho eingeladen, beim Jäger zu wohnen. Noch an diesem Abend traf er sich heimlich mit Joline, doch beide waren sich des anderen so sicher, dass sie nicht mehr als die Hände des anderen zu fassen brauchten, um dessen Liebe zu spüren."
FH
"Nee, lass man", entgegnet Flynn der Schankmagd. "Ich hab lieber heiße Suppe als lauwarmes Wasser. Dankeschön", fügt sie hinzu, indem sie die Suppe entgegennimmt.
Den Blick wieder der jungen Erzählerin zuwendend, suchen ihre Finger im Beutel nach dem Löffel. "Ach", setzt sie leise hinzu, halb der Schankmagd zugewandt, "könnte ich wohl einen heißen Apfelwein bekommen?"
RB
Eine Vorstellung amüsiert Jana so sehr, dass sie plötzlich vor Lachen losprustet, mitten in die Geschichte hinein, deren Fortgang sie verpasst hat. "Entschuldigt bitte", murmelt sie und versucht, sich kichernd wieder in den Griff zu kriegen.
VW
Posh wendet sich kurz an den Nebentisch, setzt ein nettes Lächeln auf und zieht mit einem freundlichen "Ich leihe mir den mal kurz aus. Der wird doch nicht gebraucht, oder?" einen Stuhl herüber. Er stellt ihn neben sein Schwesterlein und die Kichernde und setzt sich.
Die Magd lächelt, dann stellt sie das Getränk vor die Bardin. "Den hattet Ihr schon bestellt. Oder mögt Ihr einen weiteren?"
OHo
Twina ist wie gebannt. Der Stolz über die Erzählweise ihrer Tochter scheint sich bei dem Gesang noch ins Unermessliche zu steigern.
Ein wütender Blick trifft Jana, die so plötzlich losprustet. Wagt die es etwa, sich über Tygrids Geschichte lustig zu machen? Die rasche Entschuldigung legt zwar nahe, dass sie mit ihren Gedanken an anderer Stelle war, was wohl auch den Lachanfall auslöste, dennoch bleibt Twinas Blick finster. Eine Störung war das allemal!
OHH
Angesichts der detailreichen Vorstellung, welche man ihm bietet, lehnt sich Widumir bequem zurück und beginnt gar, mit dem Stuhl zu kippeln. So kann er alle im Blickfeld behalten, wenn ihn die schöne Gutenachtgeschichte - oder liegt es nicht eher an der anstrengenden Reise und der fortgesetzten Stunde? - ihn wohlig einlullt und ihm die Lider etwas schwer werden.
RB
Das Kichern der Schauspielerin wird wieder stärker. Ihre Hand tastet an der rechten Hüfte nach der Gürteltasche mit dem Taschentuch, um sich die Tränen von den Augen zu tupfen. Aber die liegt auf dem Stapel auf dem Boden und damit jetzt unter dem Barden.
JA
Von dem Kichern sichtlich irritiert, stockt das Mädchen in der Erzählung und schaut in Richtung der Schauspielerin, bevor sie den Blick niederschlägt, auf den Teebecher in ihrer Hand sieht und ein paar Schlucke nimmt. Ihre Wangen färben sich sichtlich und die Röte steigt weiter bis zum kupferblonden Haaransatz. Einen Moment verharrt sie still, während sie in sich hinein lauscht und den Erzählfehler sucht und nicht findet, doch das erneute Steigern des Kicherns lässt sie wieder aufschauen.
Noch einmal schluckt Tygrid, bevor sie sich wieder traut leise die Stimme zu heben und gegen das Kichern zu fragen: "Ähm... Guttli... äh... Magst du nicht wieder weitermachen? Posh ist ja nun wieder da..." Und schon fällt der nunmehr schüchterne Blick wieder auf ihren Tee und die kleine nippt daran, als sei ihr jetzt erst bewusst geworden, wie viel Aufmerksamkeit sie tatsächlich bis eben gefesselt hatte. Doch dieser Bann ist nun gebrochen und das Mädchen nunmehr wieder ein einfaches Kind, das es nicht gewohnt ist, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.
GH
Zuerst seufzt die Alte nur innerlich, sobald das dümmliche Gekichere wieder anhebt. Doch als Tygid durch diese Störung aus dem Fluss der Erzählung gerät und verstummt, kann die Guttli nicht anders, als auch hörbar bekümmert auszuatmen. Innerhalb eines Lidschlages bekommt die Häuslerin die Macht über ihre Empörung zurück und einen klaren Kopf noch überdies.
Fest richtet sie ihre Augen auf die wunderbare junge Erzählerin und streckt ihr über den Tisch die Hand entgegen. "Das kann ich natürlich tun", geht sie in warmem Ton auf deren Vorschlag ein. "Aber jetzt habe ich gerade selber ganz den Faden verloren. Weißt du, die innere Ruhe - die kommt einem so leicht abhanden, wenn man alt wird. Und gerade war ich so angefasst davon, wie herrlich du erzählt hast, und so berührt... Da weiß ich für den Augenblick selber gar nicht mehr weiter." Verständnis heischend berührt sie die Hand des Mädchens.
"Erzähl doch noch ein klein wenig fort, nur eben so, wie du es grad getan hast. Damit hilfst du mir am besten wieder hinein!" Sanft drückt sie dabei die Hand der kleinen Skaldin.
VW
Die Magd lüpft das letzte Gefäß vom Tablett und stellt den Bierhumpen vor dem Barden ab. Ein Blick in die Runde. "Wohl bekomm's."
OHo
"Das wohl!" ergänzt die Mutter die zuversichtlichen Worte der Alten. "Hast du sehr gut gemacht, Tygrid! Hätt ich nicht besser hinbekommen. Fahr doch ruhig noch ein wenig fort...!"
RB
Nun dreht sich die Schauspielerin nach links, dann beugt sie sich vor, verdreht sich und angelt mit dem Arm auf dem Boden. Was dazu führt, dass sie fast mit dem Oberkörper auf Poshs Schoß liegt. Der Barde kommt so in den Genuss, den weiten Rückenausschnitt des Kleides zu bewundern sowie die blasse Haut an Rücken und Schultern der jungen Frau. Der direkte Blick in ihr Gesicht ist durch die Haare verwehrt, die wohl bis auf die Beinkleider des jungen Mannes hängen.
VW
Posh erstarrt und wird dunkelrot und kann den Blick nicht losreißen.
OHH
Derweil Jana offenbar eine gemeinsame Nacht mit dem Barden vorbereitet - wer hätte das gedacht! - gehen Widumir die aufbauenden Worte der Alten und der Mutter weit mehr ans Herz. Diese Guttli ist wirklich ein Prachtstück!
"Ja, erzähl uns noch mehr vom Jumcarli und seiner Joline!" springt er bei, den Blick nun wieder auf das Mädchen gerichtet und die Hände verzückt ineinander verschränkt.
RB
Janas Hand findet und ergreift die Gürteltasche. Dann richtet sie sich ebenso langsam und umständlich wieder auf, wie sie sich eben heruntergebeugt hat. Hastig zieht die junge Frau das Taschentuch heraus, so hastig, dass der Stoffgoblin herausrollt und auf dem Tisch liegenbleibt. Wie praktisch so ein Tuch doch ist: Während sie sich die Tränen von den Augen tupft, verbirgt sie gleichzeitig ihr Lachen, das diesmal immerhin lautlos vonstatten geht.
VW
Posh räuspert sich leise. Dann legt er ein wenig unbeholfen die Hände in den Schoß und beginnt zu atmen.
JA
Noch immer deutlich verunsichert ob der Geschehnisse bei Jana und Posh schaut Tygrid zwischen den anderen am Tisch hin und her. Langsam ebbt ihre Gesichtsfarbe wieder auf ein halbwegs normales Maß zurück. "Ähm... na gut... äh..." Den Faden wiederfinden. Ja, das sollte sie der Guttli helfen. Doch muss sie nun selbst das fallengelassene Ende wiederfinden.
"Also, der Jumcarli und die Joline hatten sich also verliebt und wollten es nicht zeigen. Eine junge Frau aus dem Dorf namens Tsatris hatte es aber wohl bemerkt und schwärzte die beiden wohl aus Neid beim Fischer an, der sie zwar davonscheuchte, aber trotzdem gewarnt war. Die Freundin von Tyccho, also die Meja, hatte das Gespräch aber unbemerkt mitbekommen und rannte schnell zu Tyccho und dem Spielmann am Bruch, um den netten Mann ebenfalls zu warnen."
Die warmen Beschreibungen von zuvor sind nun verschwunden und die Erzählung klingt eben wie von einem Kind wiederholt, das die Gefühle der Geschichte noch nicht recht in Worte fassen kann. Unsicher schaut Tygrid zwischen den Erwachsenen hin und her. Sie selbst kann spüren, dass sie sich jetzt nicht mehr in die Geschichte von vorhin einfühlen kann. Traurig und enttäuscht schaut sie zur Alten, um sie mit der stummen Bitte um Ablösung zu ersuchen.
GH
Als der Erzählfaden wieder zu schnurren beginnt lässt die Alte die Hand der Jungen einstweilig los. Doch als sich das Weiterspinnen als allzu mühselig erweist, legt sie lindernd ihre beiden Hände um die der tapferen kleinen Arbeiterin, gerade als hätte die sich an der Spindel geritzt.
"Du kannst es", erklärt sie dieser schlicht, als würde sie Tygrid tatsächlich am Spinnrocken zur Seite sitzen. "Und wenn du es einmal kannst, kannst du es immer wieder. Weißt du, was ich mache, wenn ich den Faden beim Erzählen verliere, weil andere mich stören? Dann schließe ich die Augen, atme ruhig ein und aus und horch in mich hinein. Und nach einer kleinen Weile weiß ich dann wieder, wie es richtig war, und all die schönen Bilder kommen zurück. Das kann man üben, und am leichtesten geht es gemeinsam. Wenn du magst, kannst du es mit mir zusammen tun."
Aufmunternd zwinkert sie der jungen Skaldin zu: "Was meinst du - sollen wir es mal versuchen?"
OHH
Ein wenig verliert Widumir die Übersicht, was da genau passiert, aber das tut seinem Genuss keinen Abbruch. Auch die einstweilen unerfüllte Erwartung weiterer lustiger Taten des Jumcarli ist nicht so schlimm. Dafür beobachtet er erfreut die Zuwendung der Alten für die Junge. Das ist so herzig!
Zeit, mal wieder träumerisch mit den Wimpern zu klimpern.
JA
Still nickt Tygrid der Alten zu und hält nun ihrerseits die Hände der Häuslerin. Tief holt sie Luft, schaut noch einmal in die Augen der geübten Erzählerin, schließt dann die Augen und lässt die Luft wieder fahren. Ein paar Atemzüge braucht sie, um den Tisch des Schankraums und die Personen dort auszublenden. Es geht hier um die Geschichte, um die Gefühle, die Bilder. Sie stellt sich den Bruch vor, die kleine Fischerhütte und wie der Jannis Jumcarli dort hingeht. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihr aus und noch einige Herzschläge später, ohne dass sie die Augen öffnet, beginnen ihre Lippen erneut Worte zu formen:
"Der Spielmann saß mit Tyccho auf dem Steg, als Meja sich dem Bruch näherte. Doch noch konnte sie die beiden nicht sehen. Statt dessen stolperte sie beinahe über die Kinder des Gutwetterbauern, die mit einem alten Fass am Ufer des Bruchs spielten. 'Fallt nicht ins Wasser, ihr Burschen. Nachher kommt ihr nicht wieder heraus!' warnte das Mädchen die kleinen Jungen, die kaum dem Windelalter entwachsen waren. Die Scherze der beiden, dass die Prinzessin wohl ihren Prinzen suche, weil sie ihn so vermisse, ignorierte das Mädchen dagegen und eilte weiter, um Jannis Jumcarli und Tyccho zu warnen, dass der Fischer nun um die Gefühle der Tochter ahnte."
FH
Während Flynn weiterhin aufmerksam lauscht, löffelt sie die gute Linsensuppe.
RB
Natürlich sind die Augen schon lange abgetrocknet. Aber einen Moment lang hält die Schauspielerin das Taschentuch noch vors Gesicht, denn sie will Posh ja nicht mit ihrem Lachen beschämen. Schließlich hat sie aber ihre Züge wieder unter Kontrolle. Sorgsam jeden Blickkontakt mit den Tischnachbarn vermeidend, faltet sie das
Tuch wieder zusammen und verstaut es in der Tasche. Anschließend greift sie nach dem davongerollten, ziemlich abgewetzt aussehenden Stoffgoblin und bettet ihn auf das Tuch. Dann schließt sie den Deckel der Tasche über ihm und lässt sie auf dem Tisch liegen.
GH
Die Alte hat gleichfalls die Augen geschlossen und atmet ruhig und gleichmässig.
JA
Weiter hält Tygrid die Augen geschlossen, schaut nur auf die Bilder vor ihrem inneren Auge. Ihr Gesichtsausdruck spricht für ihre Konzentration, aber auch für ihre geistige Abwesenheit.
"Noch während Meja den beiden Jungen von den Geschehnissen am Brunnen erzählte und den Spielmann vor den Launen des Fischers warnte, hörten die drei vom Steg her ein Platschen. Die beiden kleinen Burschen hatten das Fass mit dem sie spielten als Floß benutzt und waren mit einem Stock als Stake auf das Wasser hinausgetrieben. Nun hatten sie das Gleichgewicht verloren und waren ins Wasser gefallen. Die beiden konnten aber nicht schwimmen! Strampelnd und keuchend versuchten sie, sich oben zu halten, doch sanken sie immer wieder unter die Oberfläche.
Bevor Meja sie aufhalten konnte, waren Jannis und Tyccho bereits ins Wasser gesprungen und schwammen schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, zu den kleinen Kerlchen hin. Doch das Wasser war noch eisig kalt im Frühjahr und die Kräfte zerrten an den Rettern. Doch irgendwie schafften sie es nicht nur zu den kleineren Jungen, sondern schafften sie auch zurück zum Ufer und zogen sich mit ihnen auf den rettenden Rand!"
OHH
Irgendwo ist das alles ja nicht unspannend, aber dennoch beginnt sich Widumir nun doch langsam zu fragen, wie alle diese Fäden miteinander zusammenhängen. Dies selbst herausfinden zu müssen ist er doch inzwischen etwas zu müde. Außerdem hatte er bei Jumcarlis Auftritt auf etwas Lustigeres gehofft.
So kann er es sich nicht verkneifen, herzhaft zu gähnen und sich zu strecken. Dann blinzelt er auf sein Getränk hinab, lächelt, packt es und kippt es sich die Kehle hinab.
Allerdings setzt er den Becher halbvoll wieder ab. Gerade noch rechtzeitig hat er mitbekommen, dass der Inhalt lecker genug ist, um nicht gar zu ungenossen weggegossen zu werden. Nachschmeckend blickt er wieder in die verschlafene Runde.
JA
"Völlig verängstigt und durchnässt saßen die kleinen Brüder am Ufer und schnappten nach Luft, husteten und waren nur froh, den aus der Tiefe zugreifenden Wassern entkommen zu sein. So schnell sie sich trauten, machten sie sich auf den Weg nach Hause, was Meja nun die Gelegenheit gab, ihrem lieben Tyccho und seinem erwachsenen Freund die Geschichte am Brunnen zu erzählen, die sie belauscht hatte, wo die neidige Frau dem Fischer von heimlichen Blicken zwischen seiner Tochter und dem Spielmann erzählte.
Den Ernst der Lage erkennend, machte sich Jannis Jumcarli noch am gleichen Abend auf, den Fischer zu besuchen. Er wollte sein Versprechen gegenüber der für ihn teuren Frau wahr machen und ihr beistehen, bei ihr bleiben und daher ihren Vater um Erlaubnis für eine Ehe bitten, noch bevor sie es wusste."
Hier stockt Tygrid noch einmal, aber nicht, weil sie aus dem Gesprächsfluss gerissen ist. Statt dessen wendet sie sich der Mutter zu und grinst. "Hätt' er sie einfach anständig und traditionell entführt, wäre alles vermutlich einfacher gewesen, das wohl."
RB
Selbst die erwähnte Entführung kann die Schauspielerin nicht mehr aus ihrer Lethargie reißen. Ihre Energie reicht gerade noch, den letzten Schluck Tee aus ihrem Weinbecher zu trinken.
GH
"Ja", nickt die Alte zu dem Vorschlag. "Das hätte er vielleicht tun sollen!" Sie lacht leise mit offenen strahlenden Äuglein.
Doch rasch wird sie auch wieder ernst. "Aber der Weissagung der Wasserfrau wären die beiden und Jolines Vater wohl dennoch nicht entgangen!"
JA
"Das wohl!" kommt es unvermittelt als Zustimmung auf die Anmerkung Guttlis hin aus Tygrid heraus. Noch immer lächelnd schaut die kleine Erzählerin in die Runde, sieht nunmehr wieder gefesselte Blicke und stutzt. Sie holt tief Luft, schließt dabei wieder die Augen und setzt die Geschichte fort:
"Als nun der wandernde Spielmann zum Fischer kam, der gerade sein Tagwerk vollendet hatte und noch an den Netzen einige Stellen ausbesserte, bat Jumcarli um ein Gespräch. Er versuchte dem älteren seine Verbundenheit zu dessen Tochter zu beschreiben. Dass er das Gefühl hatte, ihr sein Herz in die Hände gelegt zu haben, als er ihr die Fidel am Brunnen reichte. Dass er nur zu gern all sein Hab und Gut, all sein Können und all seine Kraft dafür aufbringen wolle, für Joline zu sorgen. Dass er sein Leben für sie geben würde, wenn es nötig sei." Trotz der nun wieder geöffneten Augen schaut Tygrid niemanden am Tisch an.
"Ernst schaute der Fischer den Wandergesellen an und bat ihn, sich vor der Hütte zu setzen. Er selbst holte noch etwas Brot und Käse, aber auch den eisernen Ring, den er einst vom dunklen Schmied bekommen hatte. 'Selbst wenn du es ernst meinst, warum sollte ich dir meine Tochter anvertrauen? Was kannst du als wandernder Musiker schon wertvolles haben, dass meine Tochter nicht hungernd und bettelnd mit dir durch die Lande ziehen müsste?' Trotz seines Misstrauens blieb der Fischer höflich, denn er ahnte, dass seine Tochter es ebenfalls ernst mit diesem Burschen meinen könnte. Doch Jannis lächelte, nahm einen Beutel aus der Jacke und öffnete ihn. 'Ich bin nicht nur ein schlechter Spielmann, sondern ein Geselle auf der Walz. Mein Handwerksgut ist das Silber. Ich mache Schmuck und verkaufe ihn.' Mit diesen Worten legte er einige Stücke auf den kleinen, roh behauenen Arbeitstisch vor des Fischers Hütte."
NW
Tesden steht nach wie vor an dem großen Tisch, an der Ecke zwischen dem buntgekleideten Gaukler und der grauen Guttli, und scheint der Geschichte zu lauschen. Oder hängt er seinen eigenen Gedanken nach?
Ganz gelegentlich schweift sein Blick durch die Gaststube, er registriert den Abgang vom Wassermüller und seinem Erben, und dass es auch ansonsten ruhig geworden ist im Schankraum.
OHH
Eine Geschichte sollte kurz und knackig sein, findet Widumir. So lange kann er sich nicht konzentrieren. Aber ist es eigentlich nur eine Geschichte, oder sind es mehrere, die nur alle in derselben Gegend spielen?
Vom Jumcarli hatte er sich auch Lustigeres erwartet, auch wenn dieser neue Aspekt den Charakter seltsamer und geheimnisvoller werden lässt.
Wie auch immer, er hätte sich jetzt lieber noch ein wenig mit jemandem unterhalten. Am Tische wird er hierfür niemanden finden. Die einen schweigen andächtig, die anderen haben bereits die Augen geschlossen - oder eben beides, falls sie im Halbschlaf noch zuhören können.
OHo
Als Tygrid sie angesprochen hat, hat Twina nur kurz lächelnd genickt. Auch die Mutter ist ganz gefangen von den Worten ihrer Tochter.
VW
Poshs Augen sind halb geschlossen und ein feines Lächeln umspielt seine Züge.
JA
Noch immer liegen Tygrids Hände in denen der alten Häuslerin. Doch nimmt der Druck ihres Griffes sanft zu, bis sie schließlich ihre Hände zurück zieht. Sie mag der lieben Frau ja nicht weh tun.
Sie reibt sich die Schläfen und die Augen, blinzelt. "Guttli, magst du fertig erzählen? Ich schaff es gerade nicht..." Ein wenig wackelt ihre Stimme durch die Kopfschmerzen, leiser und undeutlicher als zuvor. Und dennoch ist es deutlich zu vernehmen, wie ernst sie gerade den letzten Satz meint.
GH
Die Alte fröstelt, da sie mitansehen und fühlen muss, wie Tygrid während des Erzählens mehr und mehr verkrampt und der Griff ihrer kleinen Hände so fest wird, dass es kaum noch auszuhalten ist.
"Ja, wie du meinst, mein Kind!", lässt die Häuslerin dem Mädchen ein tapferes Lächeln zukommen. "Ruh dich nur aus, ich glaube, nun weiß ich auch wieder, wie es weitergeht!"
RB
Gleich wird die Geschichte weitergehen. Wie gerne würde die junge Frau sich jetzt gemütlich in ihren Sessel kuscheln, um weiter zu lauschen. Aber der hölzerne Stuhl und das enge Kleid zwingen sie, weiterhin gerade zu sitzen.
Vielleicht könnte sie ja wenigstens Der Stoffgoblin wieder aus der Gürteltasche befreien, um mit ihm zu kuscheln. Das ist sein Name: Vorname Der, Nachname Stoffgoblin. Das hat Jana beschlossen, als sie noch klein war.
Eigentlich hätte sie ihn gerne um Herrn von Stoffgoblin geadelt. Aber das ging nur in ihrer eigenen Fantasiewelt, in der sie Prinzessin war. In der realen Welt hat ihr Vater das stets abgelehnt. Immerhin hat er ihr den Titel Baroness verliehen, als sie 16 wurde. Jetzt wird wohl nichts mehr aus dem Signor von Stoffgoblin.
Mit solchen sinnfreien Gedanken beschäftigt, merkt die Schauspielerin gar nicht, welchen magischen Moment sie eben verpasst hat.
OHo
Twina war gerade so eingenommen von der Erzählung, dass ihr fast die Erschöpfung ihrer Tochter entgangen wäre. Aber jetzt beugt sie sich besorgt zu Tygrid hinab. "Geht es dir gut, mein Kind?" flüstert sie, während sie mit besorgtem Blick über das Haar der Kleinen streicht.
OHH
Anders als Jana ist sich Widumir durchaus bewusst, jederzeit etwas verpassen zu können, auch wenn er dies dann im Eintrittsfalle nicht unbedingt bemerkt. So mag er zwar Teile der Geschichte überhören oder manch zwischenmenschliches Geschehen am Tische übersehen, doch droht ihm dies bezüglich der Restwelt ja auch, noch dazu in einem völlig unüberschaubar großen Rahmen.
Der Blick zum Nachbartisch, wo schon vor Stunden zwei Gäste eingeratzt sind, bietet hierfür allerdings kein Beispiel, wie Widumir soeben nochmal feststellt.
JA
Die Augen werden ein wenig zugekniffen und ganz langsam als Antwort auf Twinas Frage der Kopf geschüttelt. "Mir ist echt komisch, das wohl. Aber das Ende der Geschichte muss ich wissen!" Zwar spricht Tygrid noch immer leise, aber deutlich hört man den thorwalschen Dickkopf durch.
Also hebt sie den Kopf, reibt sich noch einmal die Augen, greift sich ihren Teebecher mit der nun kalten Flüssigkeit und lächelt tapfer in die Runde, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf Guttli richtet, um nun das Ende zu erfahren.
OHo
Twina lächelt ihre Tochter an, wuschelt ihr noch einmal liebevoll durch die Haare und nickt dann. Sie blickt erwartungsvoll die Guttli an und wartet ebenfalls auf das Ende der Geschichte.
GH
"Mag sein", setzt die Alte ganz unvermittelt in die Erzählung ein, als sei kein Augenblick vergangen, seit sie geendet hatte, "mag sein, dass sich die frühere Güte im Herzen des alten Fischers zurückmeldete, als er im Abendlicht mit dem jungen Spielmann und Silberschmied vor seiner Hütte am Wasser saß.
Wie friedlich mit einem Mal alles war - und wie einfach. Seine Tochter hatte ihr Glück vor Augen mit einem stattlichen und ganz gewiss alsbald wohlhabenden jungen Mann, der sie über alles liebte, und bereit war, sein Leben für sie zu geben. Sein Einsatz für die beiden Knaben am Bruch ließ daran keinen Zweifel aufkommen. Der Fischer schaute den vor ihm ausgebreiteten Schmuck kaum an, so wenig bedeutungsvoll schien ihm dieser in jenem Augenblick. Der junge Freier hatte weit mehr zu bieten als Gold und Silber, nämlich einen Sinn fürs Schöne und eine Großzügigkeit, die den beiden Liebenden und sogar dem alten Vater eine friedvolle und freuderfüllte Zukunft eröffnen konnten. Mit dem klaren und warmen Abendschein legte sich zudem die Gewissheit in die Sinne des Fischers, dass Jolines Mutter längst ihren Frieden gefunden hatte, und ganz sicher mit der Wahl ihrer Tochter in Einverstand war.
'Nun gut', hub Luven nach einer geraumen Zeit des Schweigens an, während er immer noch in letzter Sammlung auf die funkelnde Fläche des Weihers schaute und schon die Hand spannte, um sie dem anderen zum Jawort entgegenzurecken. Da entdeckte er mit einem Mal eine kurze Bewegung im spiegelnden Wasser, die ihn aufmerken ließ, nicht mehr als ein Schatten, der kurz sichtbar wurde und sogleich verschwand.
Der Fischer ließ sich jedoch mit keiner Regung etwas anmerken. Doch der warme und friedvolle Glanz in seinen Augen war verblasst, als er sich zu dem jungen Brautwerber umwandte und fortsprach: 'Ich bin geneigt, Euern Antrag ernstlich zu bedenken. Deshalb erlaubt mir, mich einen Augenblick zurückzuziehen, um die Klarheit zu gewinnen, derer dieser wichtige Moment bedarf.' Mit diesen Worten erhob sich Luven."
OHH
Ob dieser Jumcarli wohl irgendein falsches Spiel treibt, überlegt Widumir. Doch mit einem halben Ohr denkt es sich nicht so gut nach wie mit zweien. Da der Tisch an der Türe leer ist, schwenkt Widumir Blick weiter herum zu dem Kamintisch hinter ihm, bis jener vor fast ihm ist. Na, die liebe Melida und das Bäuerlein sind ja auch nicht mehr sonderlich hellwach! Vielleicht sollte er hinübergehen und das Müllerstöchterchen fragen: 'Wollen wir ins Bett gehen?'
GH
"Mir graust es manchmal", fährt die Häuslerin fort, "wenn ich mir denke, welch große Folgen eine kleine Sache haben kann. Ein Tautropfen auf einem Heuhaufen kann ausreichen, um eine Feuersbrunst auszulösen; ein kleiner Fehltritt kann genug sein, um im trügerischen Moor zu versinken. Ein geringer Augenblick, in dem ein Schatten auf den sonnenbeglänzten Weiher fällt, kann den Frieden eines Abends verdüstern.
Luven hatte nur für einen Lidschlag die Veränderung auf dem Wasser wahrgenommen, doch das war für ihn genug, um rasch um die Ecke seiner Hütte zu treten, mit festem Griff zuzupacken, und in Tycchos blonden Haarschopf zu greifen. Bevor der Junge seinem Erstaunen Ausdruck verleihen konnte, legte sich die Hand des Fischers über seinen Mund und löste sich von dort erst wieder, als beide hinreichend weit von der Fischerhütte entfernt auf dem Binsenweg standen.
'Du, der du so vertraut mit dem Wasser bist", höhnte Luven, während er Tyccho weiterhin gepackt hielt,' solltest wissen, dass es ein guter Spiegel und Schutz vor ungebetenen Lauschern ist!'
'Du, der du so selbstzufrieden bist", zischte der Blondschopf, während er sich vergeblich zu befreien suchte, "solltest wissen, dass es großes Leid geben kann, wenn Joline und Jannis einander nicht heiraten dürfen!"
'Und?' lachte der Fischer grimmig auf, im Inneren bitter von diesen Worten getroffen. 'Was wird dann wohl geschehen? Wird Tyccho, der Rächer, kommen und den alten Vater strafen? Mach dich nicht zum Narren, junger Mann!'
'Ich kann machen, was ich will', gab der Knabe zurück, 'an mir liegt's nicht, wenn Jannis dann fort muss und nie wiederkehren darf, weil es sein Geschick so will. Und wenn Joline dann unglücklich wird, und ihr Vater sich grämt wegen seiner Hartherzigkeit!'
Der Griff des Alten um Tycchos Nacken schloss sich fester: "Was kannst du wissen über das Geschick meiner Tochter und... dieses Spielmanns?'
'Mehr als du weißt", riss sich der Junge mit einer überraschenden Wendung des Körpers los und sprang einige Sätze fort. 'Weil er mein Bru... mein Busenfreund ist.' Ein kurzes Entsetzen flackerte in Tycchos Blick auf, dann lief er fort, so schnell ihn seine Beine trugen.
'Dacht ich mir's doch', wiegte der Fischer das Haupt, als er sich umwandte, um zu seiner Hütte zurückzugehen.
RB
Jetzt muss Jana aber doch wieder ein bisschen aufwachen und sich konzentrieren. 'Sein Bruder... Das heißt also, Jannis' Vater ist...' "Der Schmied!" entfährt es der jungen Frau. Zum Glück schafft sie es noch, ihre Stimme zu dämpfen, so dass sie es nur leise hervorstößt.
OHH
Im Gegensatz zu Jana hat Widumir die Geschichte lediglich zur beiläufigen Kenntnis genommen, ohne Schlüsse zu ziehen. Entsprechend vermag er keine Verbindung zu ihrer halblauten Äußerung herzustellen. Folgerichtig dreht er sich wieder etwas dem Tische zu und fragt, ohne nachzudenken, warum ein Schmied jetzt noch in den Eber kommen sollte: "Wo?"
GH
"Ja, der Schmied", nimmt das Häuslersweib den überraschten Einwurf der unsteten jungen Frau auf, nicht minder überrascht, dass ein solch blindes Huhn doch auch einmal ein Körnchen Wahres findet!
"Von diesem schwarzbärtigen Gesellen hatte Luven einst einen eisernen Ring bekommen zum Schutz vor den Neckern. Dieser Ring hatte all die Jahre unbeachtet in einem Kästchen unter der Bettstatt des Fischers geruht. Nun aber, gleich als der junge Spielmann vor seine Hütte getreten war, hatte den Alten eine Ahnung erfüllt, und er hatte das Schmuckstück aus seinem Versteck geholt. Seitdem trug er es in der Hand und hatte bisher doch eigentlich nicht recht gewusst, warum. Doch nun, als er sich zu dem Brautwerber zurückbegab, schloss sich sein Griff so fest darum, dass die Fingerknöchel erblassten. 'Wir werden wohl sehen, ob Tyccho wahr gesprochen hat', dachte er bei sich. 'Und wenn ja, wehe der Wasserhexe und ihrer ganzen Brut.'
Als Luven um die Ecke der Hütte trat, wo Jannis im Abendlicht saß und wartete, lag nichts als eitel Sonnenschein auf seinen Zügen. Solch Sonnenlicht, wie es durch die Wolken brechen kann, ehe ein starkes Gewitter sich entlädt. Er streckte dem jungen Mann die Hand entgegen, welcher sich erhob.
'Nun habe ich mich überzeugt', sprach der Fischer mit bitterer Freude über die verborgene Zweischneidigkeit seiner Worte, 'und es wird wohl recht sein, Euch meine Tochter zuzuführen. Was habe ich dem entgegenzusetzen? Mögt Ihr Euch, zu Eurem und ihrem Glücke, als so treu und echt erweisen, wie Ihr scheint!'
'Das werde ich', strahlte Jannis mit einem Leuchten wie der reine Tag auf seinen Zügen, 'und darauf gebe ich Euch mein Wort und meine Hand!'
Er schlug ein, und der Fischer hielt die Rechte des Jünglings fest umfasst. 'Eure Hand soll dieser Ring schmücken, der eine letzte Erinnerung an Jolines Mutter ist. Ihr sollt ihn aufstecken, sobald meine Tochter Euch ihr Jawort gegeben hat. Dann wird der Segen beider Ihrer Eltern auf Euch liegen.'"
JA
Die Augen sind halb zusammengekniffen, aber aufmerksam lauscht Tygrid jedem der Worte, die Guttli von sich gibt.
OHH
Ach herrje, heiraten! Das ist nun nicht gerade Widumirs Sache, aber wem's Spaß macht... Sicherlich liegt hier das versteckt Bedrohliche in der Szenerie, welches Widumir verspürt. Überaus unangenehm!
GH
Ohne Zögern und weitere Achtsamheit auf das Mienenspiel der Umsitzenden fährt die Alte fort: "'Es wird mir eine Ehre und große Freude sein, Euren Wunsch zu erfüllen und mit Eurem Segen auch den von Jolines Mutter entgegenzunehmen', sprach Jannis lebhaft, während der Fischer den Ring in einem Lederbeutel verstaute, den er von seinem Gürtel losgeknüpft hatte.
'Noch heute abend soll meine Tochter Euch Ihr Einverständnis geben', kündigte Luven an und legte den Beutel in die Hand des jungen Mannes, wobei er ihn ernsthaft musterte. 'Doch mögen auch Prüfungen auf Euch warten und Gefahren, solltet Ihr sie nicht reinen Herzens entgegennehmen.'
'Was könnte reiner sein, als die Liebe?' erwiderte der Werber mit unschuldvollem frohen Lachen.
'Der Tod für den, der unrein ist', entgegnete der Alte. Sodann erklärte er Jannis die Bedingungen unter denen die Verlobung vor sich gehen sollte. Am selben Abend sollte dieser Joline auf einer Kalbsspitze genanten Landzunge treffen, dort wo sich Silje und Luven einst selbst das Ja-Wort gegeben hatten. Sobald es dunkelte, sollte Jannis sich dort auf einem schmalen Pfad hinbegeben, der sich durch die Moorlandschaft schlängelte, unweit des Wassers gelegen. Vorher sollte er keinen Menschen treffen und mit niemandem ein Wort wechseln. Luven würde seine Tochter im Boot dorthin bringen und sich dann entfernen.
Dass er sich an diese Anweisungen hielte, musste Jannis dem alten Vater in die Hand versprechen. Und dies tat er mit Freude und Zuversicht im Wissen, dass der Unschuldige den besten Schutz in seiner Unschuld hat."
OHH
In der Tat, für Widumir klingt das alles sehr danach, als wenn diese Geschichte ein überaus unangenehmes Ende nehmen müsse - auch wenn die Fürchterlichkeit wohl nicht allein in einer Ehe, sondern in unklarem Grauen, vielleicht dem Tode eines Beteiligten bestehen mag. So ist sich der Spaßmacher bei alles Spannung doch nicht recht sicher, ob er den Schluss überhaupt hören will.
In dieser schwierigen Situation verspürt er neuerlich die Anstrengungen des Tages und gähnt herzhaft. Erst danach kommt ihm der Gedanke, die nette Guttli könne dies missverstehen und ihm übelnehmen, drum lächelt er sie entschuldigend, wenngleich müde an.
GH
"Als sich der Brautwerber abgewandt hatte und bereits auf dem Binsenweg war, der vom Ufer wegführte, drang noch einmal die Stimme des Fischers an sein Ohr. Der Alte folgte ihm atemlos. Plötzlich war es wie eine Eingebung über ihn gekommen, was er dem Jungen noch sagen musste:
'Ihr sollt sie nicht küssen, hört Ihr? Nicht eher, als Ihr das Ja-Wort meiner Tochter bekommen und den Ring angesteckt habt. Das müsst Ihr mir zu allem anderen noch geloben.' Luven wusste nicht, woher sich diese Worte auf seine Lippen gelegt hatten und Jannis ahnte keinen Arg hinter ihnen. Solches mochte schließlich Brauch sein bei einer Eheschließung in diesem Landstrich, und er sah keinen Grund, dem Vater diese Bitte abzuschlagen. Und so gelobte er es.
'Da Ihr so treu seid, sollt Ihr auch eine Hilfe bekommen', sprach der Fischer weiter, als stände er fortfahrend neben sich. Doch der junge Mann sah darin einzig eine Folge des raschen Laufs und der Luftknappheit. 'Der Weg durch das Bruch ist gefährlich. Doch folgt einfach den Lichtern, die am Wege entlangführen, so werdet Ihr sicheren Fußes zur Kalbsspitze gelangen.' Jannis bedankte sich von Herzen für diesen guten Rat, bevor er endlich von Luven schied und sich zu einem stillen Platz begab, um die Nacht zu erwarten.
Kaum waren die beiden ihrer Wege gegangen, der Spielmann dem Mühlbach folgend, dem Wald entgegen, und der Alte zu seiner Hütte, erhob sich ein weißblonder Haarschopf aus den Binsen und Tyccho eilte, so schnell die Füße ihn trugen, dem Dorfe zu, von wo Joline in der Abendstunde von ihrer Arbeit zurückkehren musste.
Der Fischer holte währenddessen etliche Fangkörbe und eine Anzahl Talglichter aus seiner Hütte, setzte sich davor, und verkürzte sich das Warten damit, die Lichter den Schwimmern aufzustecken, welche die Körbe auf dem Wasser kenntlich machten."
Kurz hält das Weib in seiner Erzählung inne, um die Mienen der Zuhörer zu mustern.
JA
Tygrid schaut nicht glücklich. Auch ihr schwant durchaus das Ende der Geschichte, nunmehr noch viel deutlicher als noch zuvor.
OHH
Zunehmend verwundert sich Widumir über die Aufregung des Fischers. Als jener dann sich aber durch die beleuchtete Wasserdekoration verdächtig macht, richtet sich der Schelm geradezu empört auf. Will er den Jannis etwa umbringen!? Man muss den armen Kerl warnen! Was für eine unlustige Geschichte.
VW
Posh blickt streng auf die Geschichtenerzählerin. Warum kann ein solches Fiasko nicht einfach und schnell enden, ohne dass die Zuhörer noch einmal durch die schwere Gefühlsmühle gedreht werden?
FH
Flynn fixiert die Erzählerin mit höchster Konzentration, das Kinn in die Hand gestützt, an ihrer Unterlippe nagend.
OHo
Ein wenig verkniffen schaut Twina zu der Alten hinüber, aber noch eher erwartungsvoll als missgestimmt.
GH
Die Häuslerin holt tief Atem, bevor sie den Strang der Geschichte weiterdreht.
JA
Da die Erzählerin sich noch sammelt, schaut Tygrid einmal über die Mienen der Zuhörerschaft. Widumir wirkt rechtschaffen empört, die Schauspielerin müde und eher unbeteiligt, die Spielleute vor Spannung gebannt, wobei Flynn genauso dasitzt, wie sie selbst, während ihr Bruder besser was zu kauen haben sollte. Ihre Mutter Twina, die solche Geschichten ja eigentlich kennt, wirkt irgendwie unzufrieden.
GH
"'Du kommst spät, Tochter', rief der Fischer und erhob sich vom Arbeitstisch, wo er seit einiger Zeit seine Arbeit beendet hatte, und wartete. Es war bereits dämmrig geworden, als sich Joline vom Binsenweg der heimatlichen Hütte näherte.
'Ach Vater, welch ein Tag dies war!', erwiderte sie und warf sich Luven in die Arme. Doch dessen Umarmung blieb kalt. 'Die Kuh, die ich molk, hat den Melkeimer umgetreten und die Milch verschüttet. Und die Schürze, die mir Mutter genäht hat, ist beim Eiersammeln gerissen. Und dem Schuh, den du mir gemacht hast, ist die Sohle gebrochen. Deswegen bin ich so spät.'
'Du sollst nicht länger melken müssen. Und Schürze und Schuh sollst du tauschen', sprach Luven mit abgewandtem Gesicht und versteinerter Miene. 'Zwar habe ich weder ein Hochzeitskleid noch Brautschuhe für dich, aber du sollst dich rasch in dein bestes Kleid hüllen. Denn heute Nacht will ich dich dem Mann zuführen, nachdem Dein Herz sich sehnt. Und wenn er deiner würdig ist, magst du ihm dein Ja-Wort geben.'
Vielleicht war es gut, dass Joline weiter den Kopf an Luvens Brust gelehnt hatte, denn so konnte der Alte ihr nicht in die Augen schauen. Dort blitzte keine Überaschung auf, doch Sorge und eine heimliche Furcht. 'Wo soll das geschehen, Vater?', fragte sie bang.
'Dort wo ich um deine Mutter freite - auf der Kalbsspitze, mitten im Bruch.'
'Muss es wirklich dort sein? Du weisst, wie tückisch der Weg dort ist im Dunkel!'
'Habe ich ihn damals gefunden, so wird dein Werber ihn wohl auch finden. Wenn die Götter Eurem Bund geneigt sind, muss er nichts fürchten.'
Joline spürte, dass es keinen Sinn hatte, in ihren Vater zu dringen. Sie seufzte nur, bevor sie in die Hütte ging. Wann mochten die Sorgen und Prüfungen ein Ende haben?"
OHH
Oder sollte Widumir etwas falsch verstanden haben? Irgendwie wirkt der Fischer doch recht besorgt und um Hilfe bemüht - ein Eindruck, welcher rasch wieder verfliegt. Ganz klar, der treibt falsches Spiel, der Garstige! Unruhig hoppelt Widumir auf seinem Stuhl herum, der Entscheidung unfähig, ob er dieses mutmaßlich schreckliche Geschehen bis zum bitteren Ende mitanhören soll.
GH
"Viel Zeit, sich hochzeitlich herzurichten blieb Joline allerdings nicht", berichtet die Häuslerin weiter, "denn der Vater drängte zur Eile. Immerhin trug sie ihr bestes Kleid und die feinsten Schuhe, als sie aus der Hütte trat. Der Fischer hatte unterdessen das Boot klar gemacht, das an den Seiten von zwei Fackeln beleuchtet war, stieg ein und lud dann seine Tochter ein, darin Platz zu nehmen.
Diese aber zögerte. 'Warum soll ich fahren, wenn doch mein Liebster den gefahrvollen Pfad durch das Moor nehmen muss?'
'Deine guten Schuhe solltst du nicht verschmutzen und zertreten. Was willst du einmal tragen, wenn wir deine Hochzeit mit allen Leuten feiern?'
'Heute abend werde ich meine Hochzeit feiern, allein mit dem, den ich liebe. Was sollen mir da die Leute?'
'Gilt dir denn das Wort deines Vaters nichts? Habe ich deinem Freier versprochen, dass er dich dort draußen treffen soll, oder nicht? Dann soll er uns nicht etwa auf dem Wege einholen. Denn alles soll genauso zugehen, wie damals, als ich um deine Mutter warb. Den gleichen Steg voll Fährnisse soll er gehen, um gleiches Glück zu erwerben.'
Joline musste abermals merken, dass sie bei ihrem Vater nichts ausrichten konnte. So stieg sie schweren Herzens zu ihm ins Boot. Luven legte sich in die Riemen, und als sie eine Zeit über das abendlich glitzernde Wasser gefahren und dem Landweg zur Kalbsspitze nahekamen, zog der Alte die Ruder ein und beugte sich hinter sich, um einen der Fangkörbe zu greifen, die er dabei hatte. Mit rascher Hand entzündete er das Talglicht auf dem Schwimmer und ließ den Korb zu Wasser.
'Wozu dient das, mein Vater? Der Weg geht doch zur Linken, und nicht hier im Feuchten!' fragte Joline bang.
'Und den Weg soll dein Liebster auch nehmen', lachte der Fischer. 'Diese Körbe lege ich aus, um Krebse zu fangen. Und du weißt, früh einholen muss man die, bevor es hell wird. Wie sollte ich sie wiederfinden, wenn es noch dunkel ist?'"
OHH
So steht nun zumindest fest, dass der Fischer entweder ein Mörder oder ein gemeingefährlicher Dummkopf ist. Kaum mehr kann sich Widumir zurückhalten, seine Empörung herauszuschreien. Am liebsten möchte er aufspringen und Jumcarli suchen, ihn zu warne. Doch dann besinnt er sich, dass es ja eine Erzählung ist, der er hier beiwohnt. Alles ist längst geschehen, nichts mehr zu verhindern.
Als einzige Wahl bleibt, die schrecklichen Geschehnisse von dereinst mit anzuhören oder nicht. Endgültig schlüssig ist sich Widumir hierin noch nicht, doch mag man seiner Unruhe anmerken, dass es ihn nicht mehr lange auf dem Stuhle halten wird.
GH
"Joline grauste es", fährt die Alte fast atemlos und mit gesenkter Stimme fort, "denn ein jeder weiß doch, dass Krebse zum Herbst hin, im Rondramond gefangen werden. Nun, im Frühsommer waren sie noch im Wachstum begriffen. Und wer hatte darüber mehr Kunde, als der Fischer?
Doch das Mädchen schwieg. Der Geist ihres Vaters hatte sich verfinstert - und sie trug die Schuld daran. Sie, die ihn verließ, ja verlassen musste. Und das kostete den Alten den Verstand, nachdem er schon Jolines Mutter verloren hatte. Doch welche Wahl hatte sie? Würde der Vater glücklich sein können, wenn sie selbst ihr Glück in den Wind schlug und unglücklich wurde? Sie musste einfach darauf hoffen, dass die guten Kräfte, die ihr bisher auf ihrem Wege geholfen hatten, ihr auch dieses Mal zur Seite stehen würden.
'Und es soll alles genauso zugehen, wie damals?' Ein kleines mutiges Lächeln hatte sich auf Jolines Gedicht gestohlen, doch Luven konnte es im Dunkeln unmöglich sehen. 'Genauso, wie du es mir immer erzählt hast?' 'Genauso und nicht anders!', bestätigte der Fischer, während er den nächsten Korb auswarf. 'Das ist gut', nickte die Tochter. 'Dann soll es um Mutters willen so sein.'
Es war dunkel geworden, und das war für den Brautwerber das Zeichen, aus seinem Unterschlupf aufzubrechen. Nun mochte der Vater Joline zur Kalbsspitze gebracht und sich entfernt haben, wie er es angekündigt hatte. Nun wartete seine Braut dort auf ihn, und was hätte ein größerer Anreiz sein können, den gefährlichen Weg dorthin zu gehen, trotz aller Angst und Ungewissheit, die Jannis unter seinem Herzen spürte? Als er an der Wegscheide angekommen war, wo der einsame Pfad ins Bruch abbog, und den Dorfweg hinter sich ließ, prüfte der Spielmann noch einmal sein Gepäck - der Ring lag wohlgehütet in dem kleinen Beutel an seinem Gürtel. Die Fiedel samt Bogen hatte er unter den Arm geklemmt. Nun nahm er sie hervor, setzte sie ans Kinn und begann zu spielen.
Die schmale Mondsichel hatte sich hinter Wolken verborgen, als Jannis Jumcarli seine Wanderung durchs Bruch begann."
FH
Die Flötenspielerin hat scharf den Atem eingezogen, als der alte Fischer daran ging, seine trügerischen Lichter aufs Wasser zu setzen. Behutsam lässt die Seenländerin den angehaltenen Atem wieder ausströmen, während sie gespannt des Fortgangs der Erzählung harrt.
OHH
Kurz davor, aufzuspringen, entspannt sich Widumir dann doch noch. Joline weiß schließlich selbst am besten, weswegen sie plötzlichnicht mehr beunruhigt ist. Dass es sie überhaupt gibt, ist Beweis genug für das Überleben des Fischers. Über sich selbst verwundert, kratzt sich Widumir an der Wange. Der Fischer ist noch besserer Beweis, dass er es überlebt hat!
Hach, dann mag ja doch noch alles gut enden! Erleichtert lehnt sich Widumir wieder an und spürt, wie die Müdigkeit wieder Oberhand gewinnt. Nach der Geschichte, will er lieber rasch ins Bett fallen. Das war ein anstrengender Tag. Schön anstrengend!
Und so sinkt Widumir bei der sanften Stimme der guten Alten zunehmend in einen Halbschlaf, bei welchem er sich ausmalt, wie Jumcarli, welcher frappierende Ähnlichkeit zu Irinio aufweist, das Ungeheuer von Sumpf-Nässe besiegt und schlussendlich mit seinem geliebten Mädel zu einem tollen Leben auf den Straßen Aventuriens aufbricht.
Es soll ja Leute geben, die völliges Dunkel oder allgemeine Stille zum Einschlafen benötigen. Andere widerum bedürfen einer weichen Schlafstatt.
Nicht so Widumir, der nicht einmal den Tisch zu Hilfe nimmt, um nicht vom hölzernen Stuhle zu kippen - die Lehne genügt ihm vollauf. Der Kopf ist vornüber gesunken, als betrachte der Schelm eingehend seinen unter dem Hemde verborgenen Bauch, in welchem es gelegentlich leise gluckert wie in einem Sumpfloch.
GH
Wie das Mädchen erhebt auch die alte Erzählerin ihre zitternde Stimme: "'Mich oder meinen Vater? Warum willst du ihm treuer sein, als uns? Oh ihr Männer, immer redet ihr von Treue zu anderen! Ich habe diese Treue so satt - sie hat meinen Vater den Verstand gekostet, sie wird dich dein Leben kosten! Sei dir selber treu, wirf den verfluchten Ring fort - und komm!'
Ehe Jannis noch irgendetwas sagen oder tun konnte, verblüfft wie er war, ertönte wie ein Donner die Stimme des Fischers, der hinter den Büschen auf einer niedrigen Sandkuppe versteckt gelegen hatte. Der Alte hatte in seinem Boot die Landzunge umrudert, nachdem er seine Tochter dort abgesetzt hatte, und war heimlich zurückgekehrt, um den Lauf der Dinge zu verfolgen. Bei sich trug er den eisernen Fischspeer, der im Boote verborgen gewesen war. Den hob er nun und richtete ihn auf den Spielmann, während er brüllte: 'Sein Wort soll er halten - oder mein Spieß ihn treffen!'"
Atemlos mitgerissen von ihrem Bericht fahren die Arme der Greisin in die Höhe, während sie lodernd fortfährt: "Da warf sich Joline mit aller Kraft ihrem Geliebten entgegen. Wie ein Blitz über den Himmel zuckt, sprang sie über das letzte Stück des schlüpfrigen Weges, ihr Körper prallte auf den seinen und riss ihn zu Boden. Hintenüberschlagend verlor Jannis den Ring, der in hohem Bogen ins offene Wasser flog und darin unterging. Im gleichen Augenblick zischte der Fischspieß über die jungen Leute hinweg.
Und dennoch war alles zu spät für die beiden Liebenden. Das tückische Wasser, in das sie durch ihren Fall hineingeraten waren, ließ ihnen nur einen kurzen Kampf. Sich aneinanderklammernd versuchten sie einen Halt zu erhaschen, den es nicht gab, rangen einen Augenblick mit der saugenden Tiefe, um dann in ihr zu versinken.
Dies musste Luven entsetzt mitansehen, ohne noch irgend etwas tun zu können, ehe er sich abwandte und mit vor Wahnsinn starrenden Augen seinem Boot zueilte."
RB
Die Schauspielerin schlägt die Hand vor den Mund, als wie im Theater plötzlich der Vater mit dem Speer auftaucht. Eine Träne bildet sich im Auge der Zuhörerin, als sie dem in der Tiefe versinkenden Liebespaar nachtrauert.
VW
Wie ein eigenständiges Wesen zuckt die rechte Hand des Barden auf der Fläche des Tisches, drückt Saiten herunter, welche gar nicht existieren, greift ein uralte, melancholische Melodie.
GH
Einen kurzen Augenblick holt die Alte Luft und schaut in die Runde, in der sie Betroffenheit und sogar feuchte Augen erblickt. Dann senkt sie die Stimme: "Kaum wissend, was er tat, war der Fischer bei seinem Kahn angelangt und hineingesprungen, als sich dieser wie von selbst in Bewegung setzte. Zu spät erkannte der Alte, dass jemand dort auf der Ruderbank saß und das Boot mitten auf den Mühlenweiher hinaussteuerte.
'Guten Abend, Luven', sprach das junge Weib, das dort saß, herrlich anzusehen mit seiner schlanken Gestalt in silbrigem Kleid und dem weißblonden Haar, das lang über ihre Schultern fiel und sich wie die Wellen im Mondlicht kräuselte. Herrlich - und schrecklich zugleich. Denn es war, als senkten sich ihre dunklen und ruhigen Augen dem Fischer wie zwei kalte Dolche ins Herz. Und bei ihrem Gruß blitzten in ihrem Mund die nadelspitzen weißen Zähne. 'Nun hast du wohl wirklich dein Kind verloren. War es so, wie du es dir gewünscht hast?'
Da endlich war es, als löste ein harter und drückender Felsblock sich in Luvens Brust. Und das erste Mal seit Siljes Tod rannen ihm Bäche von Tränen über die Wangen. Er vergrub den Kopf in den Händen und schluchzte. 'Das alles ist deine Schuld!'
'Oh, ich klage nicht, mein Freund', erwiderte das Weib mit ruhiger, ja freundlicher Stimme. 'Ist nicht alles so gekommen, wie wir es abgemacht haben? Dass du die Tochter, die ich dir gab, verlieren solltest, das wusstest du. Niemand hat dich gezwungen, in diesen Handel einzuwilligen. Du magst mir vorhalten, es sei ein ungleiches Geschäft gewesen - was hätte ich schon dabei verlieren können?'
Eine Weile hielt sie im Rudern inne und schaute hinaus auf den Weiher. Der Fischer saß wie versteinert ihr gegenüber. Und es war absolut still, ehe sie leise weitersprach.
'Auch ich hatte ein Kind zu verlieren, wie du. Einen Sohn, der sich nichts sehnlicher wünschte, als eine menschliche Seele. Niemals hätte ich seinem Begehren stattgegeben, denn anders als er wusste ich nur allzu gut, wie es in eurer Welt hier oben zugeht. Dennoch erfüllte ich ihm sein Sehnen an dem Tag, da du deine Tochter bekamst. Denn es schien mir nur recht, dass auch ich etwas dreingab in unser Abkommen. Beide sollten wir etwas zu verlieren haben - wie alle Eltern - ich meinen Sohn, indem er sterblich wurde; und du deine Tochter durch das kleine Stück Unsterblichkeit, das beide in ihrer Liebe finden sollten. So und nicht anders hatte ich es gedacht vom ersten Augenblick an.'
Luven hob den Kopf aus seinen Händen und sein gramvoller Blick versank in ihren unergründlichen Augen.
'Ich klage nicht, mein Freund', fuhr sie fort, während sie die Hand ausstreckte und ihm kaum merklich über das Haar strich. 'Denn ich bin böse, sagt ihr Menschen, und es sei dahin, ob ich es immer war, oder ob mich das Eisen, das ihr in den Weiher senktet, kalt und fühllos gemacht hat. Ich wusste, welcher Gefahr ich mein Kind aussetzte, und nun muss ich dafür bezahlen mit Einsamkeit und Mutterschmerz und Schuld für immer. Das ist nicht mehr als recht. Ich kenne das Leiden, seit ich vom Neck im Mühlbach getrennt bin. Ich kenne es, seitdem du, den ich von allen Menschenkindern am meisten in mein Herz schloss, denkst, dass ich so böse sei. Ich habe keine Tränen, wie ihr Sterblichen, um meinen Sohn oder deine Tochter zu beweinen.
Aber dich kann ich nur bitter beklagen, Luven. Nicht für deine Trauer um Silje und deine Angst um Joline, für die ich dich achte. Doch noch mehr verachte ich dich; für dein erkaltetes Herz, deine Selbstgerechtigkeit und deinen Starrsinn. Alle Hilfen, die ich dir geben, allen Schutz, den ich dir bíeten konnte, hast du nicht einmal ansehen wollen!'"
OHH
Durch die lauter gewordene Erzählerin ist Widumir vom Schlafe aufgefahren und hat ausgerechnet das mitbekommen müssen, was er auf gar keinen Fall hören wollte. Fassungslos starrt er vor sich hin, das gurgelnde Sumpfloch vor Augen, in welchem soeben die beiden Hauptpersonen der Handlung versunken sind.
Und wer zetert da noch im Hintergrund und beklagt sich, dass man keinen klaren Gedanken fassen kann? Der Mörder, der heimtückische Vater, der offenbar auch noch alles irgendwie mit dieser seltsamen Frau geplant hat!
Unwillkürlich hebt Widumir die Hände und will den Kerl anschreien, was er sich einbildet, doch die Frau fällt ihm ins Wort und gesteht ihre heimtückische Hälfte der unfasslichen Schurkerei: den Mord am eigenen Sohne!
Was dann von ihr kommt, kann den wirrhaarigen nur verwirren. Vielleicht fehlt ihm ja zu viel, um das alles zu verstehen. Aber ein Motiv für die finsteren Machenschaften beider liefert es ihm jedenfalls nicht.
So bleibt ihm, als Guttli endlich eine kurze Pause macht, nur selbst die Luft weg. Was könnte man zu alledem noch sagen!
FH
Ein tiefer Seufzer entringt sich der Brust der Seenländerin. Inständig hält Flynns blauer Blick das Antlitz der Erzählerin umschlossen.
JA
Hörbar schnappt Tygrid nach Luft, als das Liebespaar umschlungen in die tiefen Wasser des Bruchs versinkt. Ebenso hörbar entlässt sie die Luft, als der Ruderer sich als die Teichnixe entpuppt. In Gedanken und nur in die Geschichte vertieft runzelt das Mädchen die Stirn in Erwartung der Auflösung.
GH
Abermals wirft die Alte einen Blick auf ihre Hörer und findet sie gespannt. Sogar der Herr Widumir scheint wieder mit dabei zu sein und ganz verdattert. Da will sie rasch weiterberichten, denn spät ist die Stunde.
"'Wann hättest du mir denn geholfen', rief der Fischer mit empörter Stimme, 'und welchen Schutz bekam ich je von dir?'
Da lächelte das Weib sein rätselhaftes Lächeln und beugte sich noch näher zu dem Weinenden, so dass sie ihm direkt in die Augen schaute. 'Ich kann dich nicht zwingen, die Dinge so zu sehen, wie ich sie dir gerne zeigen möchte. Aber ansehen solltest du sie zumindest, und nicht sie leugnen. Dann müsstest du dich nämlich fragen, wie es denn kam, dass deine Tochter all ihre Knderjahre am Wasser spielen und toben konnnte, ohne jemals in Gefahr zu geraten oder krank zu werden. Dann müsstest du dich wundern, woher der Otter kam, den deine Tochter sah, am Tag, als Silje sich verletzte, und der versuchte, euch vor den Eisenhaken des schwarzen Schmieds zu schützen. Dann müsstest du rätseln, wer denn das Feenross sandte, das den Heiler zu deinem kranken Weibe tragen sollte.
Aber ihr Menschen fragt euch nicht, ihr wundert euch nicht, ihr rätselt nicht, wenn euch das Gute begegnet, das ihr einfach annehmen müsstet. Stattdessen fürchtet ihr euch und seht überall Gefahren, wo keine sind. Und die wirklichen Gefahren - die seht ihr nicht! Keinen Augenblick hast du gezögert, den eisernen Ring des Schmiedes anzunehmen. Du brauchtest ja einen Schutz gegen mich und meine Brut, die dir soviel Übles hat wiederfahren lassen. Nicht einmal das Wort deines sterbenden Weibes hast du zu Herzen genommen, die dir riet, ganz einfach zu vertrauen, dass Jolines und dein Leben geschützt sind.
Meinem Sohn hast du nicht vertraut, der deiner Tochter Liebe und dir selbst ein sorgloses Leben im Alter versprach. Es gefiehl dir so sehr, den vom Leben Enttäuschten zu spielen, dass du ihn lieber tot gesehen hättest, anstatt ihm zu glauben. Und als deine List mit den Lichtern, die ihn ins Verderben führen sollten, nicht aufging, weil ich selbst sie am rechten Wege entlang legte, da scheutest du am Ende nicht einmal davor zurück, dein eigenes Kind mit deinem Speer in Todesgefahr zu bringen.'
Ihre Hände legten sich um die Schultern des stumm und ausdruckslos Starrenden. 'Du bist einfach unverbesserlich, Luven. Du wolltest dich nicht mit deinem Leben versöhnen, obwohl du nicht viel Schwereres zu tragen hattest, als manche anderen auch. Und ich bin sicher, dass du insgeheim froh wärest, ließe ich dich nun einfach aus deinem Boote stürzen und ertrinken. Ist es nicht das, was du dir wünschst?'
Der Fischer nickte langsam und seine Augen ertranken hilflos in dem bodenlosen Blick des Weibes.
'So einfach werde ich es dir nicht machen, Luven', sprach sie. 'Dann hättest du ja recht, dass ich am Ende dein Leben zerstört hätte, wie du es immer geglaubt hast. Darum werde ich dich auch nicht strafen für all das, was du angerichtet hast. Es lüstet mich nicht nach Rache und es ist nicht an mir, deine Schuld zu vergelten. Deswegen werde ich dich von nun an mit dir alleine lassen. Denk aber nicht, dass ich einfach meine Hand von dir abziehen werde, so dass kein Fisch mehr in deine Netze geht und deine Reusen leer bleiben und du gezwungen wärest, bettelnd und hungernd über Land zu ziehen. Da gäbe ich dir bloß neuen Grund, mir zu fluchen und mir die Schuld an deinem Elend zu geben.'
Das Weib nahm seine Hände von den den Schultern des Fischers und lächelte kalt. 'Nein Luven, nun sollst du spüren, wie böse ich bin. Zweimal täglich werde ich dir von jetzt an dein Boot mit Fisch füllen und meine Schatzkammer in deine Netze ausgießen. Hundertmal mehr sollst du fangen, als du verbrauchen kannst. Karren voll Fisch und Schalentieren sollst du zum Markt fahren. Alles wirst du verkaufen, bis zum letzten Rest. Du wirst Geld einnehmen, Luven, viel Geld. Du wirst ein Lager bauen und einen Pökelschuppen. Du wirst ans Meer ziehen und in einem richtigen Haus in einer vornehmen Straße in einer reichen Stadt leben. Viele Boote wirst du dein eigen nennen und der Reichtum wird dir ins Haus gespült werden wie Meereswogen. Und die Gier nach dem glänzenden Metall wird dein Herz einschnüren. Du wirst es fühlen, wie deine letzte Freude stirbt und deine Sorgen dich verzehren. Doch du wirst nicht aufhören können zu begehren, und dein Begehren wird dich immer einsamer machen, bis der letzte Rest an Güte in dir erstickt ist und du dir selbst zum Greuel geworen bist. Nichts glaubend, nichts hoffend, nichts liebend - so soll dein eisernes Herz einmal stehen bleiben, und nichts wird von dir über sein.'
Sie hielt in ihrer Rede inne und schaute hinab ins Boot. Mit funkelnden Augen, wies sie den Fischer, ebenfalls den Blick dorthin zu richten. 'Um einen Anfang zu machen - hier unten liegt ein Schmuckstück, das du wohlmöglich vermisst. Die Wellen mögen es dir ins Boot gespült haben. Nimm es an dich, es ist dein für immer - und es möge dir Glück bringen!'
'Nein!' rief Luven mit lohender Stimme und sein Blick brannte in verzehrendem Feuer. 'Das Unglück, das an diesem Ringe hängt, soll niemandem mehr schaden. So wie es mir Frau und Tochter nahm, fresse es nun mein eigenes Leben!' Blitzartig griff er den Ring, hob ihn an den Mund, verschluckte ihn und warf sich über den Bootsrand ins Wasser. Erstickend mit den Armen rudernd kam er noch einmal nach oben und sah, wie ein silbriger Reiher dicht über dem Weiher davonflog. Dann zog es den Fischer endgültig in die Tiefe, und er war dahin."
Die alte Erzählerin atmet tief aus, schließt für einen Moment die Augen und legt die Hände ineinander, bevor sie weiterspricht. "Das könnte das Ende meiner Mär sein, und es möge uns lehren, das Herz nicht gegen das Leben zu verhärten. Denn damit strafen wir uns am Ende selbst."
Wieder macht sie eine kurze Pause, blickt in die Runde und setzt ein kleines Lächeln auf. "Doch ach, das Leben ist mehr als ein ehernes Gesetz. Für den, der es sehen mag, bietet es kaum zu glaubende Wunder. Kaum, dass der Fischer über die sandige Anhöhe zu seinem Boot geeilt war, kräuselte sich das morastige Wasser, in dem die beiden Liebenden versunken waren zu Blasen und Ringeln. Aus dem Sumpf erhoben sich prustend und ringend Kopf und Schultern des Spielmanns. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, sich zum festen Sande der Landzunge voranzukämpfen. Und als er auf dem Sande zu liegen kam, gab er die Last frei, die er in den Armen geborgen hatte. Da lag Joline, still und blass und reglos.
'Was wäre ich für ein Wassermann, könnte ich dich nicht auch aus diesem schlammigen Grab befreien', keuchte Jannis. Doch dann schüttelte ihn ein heftiges Schluchzen. 'Was nützt es aber? Alles ist vergeblich, nun, da du tot bist!'
'Das bin ich nicht', kam es leise und hustend aus Jolines Mund. 'Nur beinahe.'
Fassungslos lag das Gesicht des jungen Mannes über dem ihren, als sie die Augen öffnete. Und voll Verwunderung blickten sie sich an, als sähen sie einander das erste Mal.
Mit einem Lächeln beantwortete das Mädchen die Stumme Frage ihres Liebsten. 'Die Wasserlilie, die ich pflückte, ehe du kamst - ich trug sie in meinen Händen und an meiner Brust, als wir versanken. Solch eine Blüte gab mir einst das Leben - und hat es nun auch gerettet; und deines wohlmöglich mit.'
Da sanken die beiden Liebenden ineinander hin und versanken abermals - in einen Kuss ohne Ende. So erhielten sie ihr Leben neu - und Jannis Jumcarli eine menschliche Seele.
Auch dieses könnte das Ende der Geschichte sein - ein besseres, wer weiß. Doch eines bleibt noch zu berichten.”
OHH
Was Luven wünschen mag, ist Widumir eigentlich herzlich gleichgültig. Das Weib hat mit allem recht - nur dass es selbst nicht besser ist. Nein, solche Geschichten um gefährlich dumme Menschen - oder Anderswesen - liebt Widumir ganz und gar nicht. Um so schlimmer, wenn sie gar kein Ende nehmen!
Schon will Widumir ausftehen und die beiden Zänkischen sich selbt überlassen, da werden des Weibes Worte so wunderlich, dass er doch noch zuhören muss. Nun will sie ihn für seine Untaten auch noch reich beschenken!?
Erleichtert atmet der junge Mann auf, als die Ungerechtigkeiten doch einen unvermuteten Schluss zu finden scheinen. Erfreut nimmt er zur Kenntnis, als die beiden Totgeglaubten im buchstäblichsten Sinne wieder auftauchen. Also ist Jannis doch noch nicht zum Menschen geworden, wie Widumir bis eben geglaubt hat. Oder es lag an der Lilie. Wen interessiert es! Hauptsache, sie leben, und man kann endlich schlafengehen!
Die Ankündigung Guttlis lässt nicht unbedingt Gutes vermuten, und sei es nur eine Fortsetzung des Hin und Her und weiterer undurchsichtiger Geschehnisse. Vorsichtshalber erhebt sich Widumir, um notfalls gleich nach oben flüchten zu können. Unglaublich, was die Alte für eine Ausdauer hat! Vermutlich könnte er sich morgen früh wieder dazusetzen, um dann das wahrhafte, endgügltige Schluss-Ende noch mitzubekommen - falls er dann wieder Lust darauf haben sollte.
NW
Da sich die Geschichte dem Ende zuneigt, strafft sich Tesden etwas, und ein weiteres Mal wandert sein Blick durch die Gaststube. Dann nähert sich Tesden vorsichtig dem Nachbartisch, wo Melida gerade wieder blinzelnd die Augen öffnet und den Kopf aus den Händen hebt.
GH
Eine leichte Unruhe zieht durch den Raum. Den jungen zapplichten Kerl hält es nicht mehr auf seinem Stuhl, und von der Tür her poltert es. Doch all dies kann die Häuslerin nicht weiter stören. Rasch gehört noch der Schluss erzählt, ehe es für alle Zeit wird, zu Bett zu gehen.
"Zum guten Schluss mögt Ihr Euch wundern, warum ich Euch all dies berichten kann - war doch niemand dabei, als diese Dinge des Nachts im Bruch geschahen. Joline und Jannis wurden nicht wieder im Dorfe gesehen, und das einzige, was man vom Fischer fand, war sein verlassenes Boot, das am nächsten Tag von den Wellen an den Strand des Weihers getragen wurde.
Doch einer war seit dem letzten Abend von schlimmen Ahungen umgetrieben worden und hatte vergebens den Schlaf in dieser Nacht gesucht. Als gegen Morgen ein silberglänzender Reiher mit klagendem Ruf dicht über die niedrige Hütte des Jägers hinweggestrichen war, füllte sich Tycchos Herz mit Schwermut. Es trieb ihn hinaus ans Wasser und auf den Steg. Hier warf er sich hin, schaute in die Wellen und auf den Grund - und je länger er schaute, desto trauriger und gewisser wurde er. Mag sein, dass er dort unten Dinge sehen konnte, die uns anderen verborgen bleiben. Wie ich es sagte, dieser Tyccho war ein merkwürdiger Junge.
Nachdem er eine Weile dort gelegen hatte, stand er auf und rief mit verzweifelter Stimme über dem Wasser aus: 'Was soll ich noch hier? Getrennt von meinen Schwestern und geschieden von meinem Bruder, mit dem ich nichts mehr teilen darf? Hol mich nun auch heim - hier hält mich nichts mehr!'
Schon spannte er sich, um in die Tiefe zu springen. Doch da schnellte etwas hinter ihm über die Planken des Steges. Ehe er fallen konnte, hatten zwei feste kleine Hände seine Füße umschlungen und hielten ihn fest. Nicht ins Wasser stürzte Tyccho, sondern hart auf das Holz. Jemand warf sich auf ihn und eine zornige Stimme drang an sein Ohr. 'Und ob ich dich halte! Oder meinst du, ich hätte Lust, zur Weide zu werden und ewig zu warten, bis du zurückkommst, du Dummkopf? Wie kannst du glauben, du könntest so einfach verschwinden?'
Wütende Fäuste trommelten auf Tycchos Rücken, so dass er gezwungen war, sich umzudrehen, um die härtesten Schläge abzuwehren. Da sah er Meja ins schmerzerfüllte Gesicht - und mit einem Mal wurde ihm das Herz leicht und froh. Beide blickten sich in die Augen, und auch aus Mejas Wut wurde ein Staunen, ein Lächeln, ein Lachen. Und ohne, dass sie recht wusste, was sie tat, ihrem Herzen folgend, beugte sie sich vor und küsste Tyccho zart auf den Mund.
Alles wurde weich und warm in ihm, die Einsamkeit schmolz dahin und der kalte Schmerz und die Schwermut verließen ihn in diesem Augenblick für immer.
'Wir sollten uns eilen, solange im Dorf noch alle schlafen', sagte Meja und reichte Tyccho die Hand zum Aufstehen. 'Ich habe da zwei getroffen, die in der großen Stadt an der Küste ihr Glück miteinander versuchen wollen und uns fragen, ob wir sie begleiten. Und was meinst du - wollen wir?'
'Nichts lieber als das!' rief Tyccho da, und seine Menschenseele tanzte vor Freude in ihm.
Viel später habe ich ihn und Meja noch einmal getroffen, draußen auf dem Steg, wo wir als Kinder spielten, und da habe ich all dies von ihm selbst erzählen hören. Beide mussten ja einmal zurückkommen, um nach Mejas Eltern und dem Jäger zu sehen. Sie waren da längst erwachsen geworden und sehr glücklich miteinander. Tyccho hatte das Handwerk eines Silberschmiedes gelernt, Ihr mögt raten bei wem - und Meja war eine gute Weberin geworden, obwohl die Gevatterin Karline das nie geglaubt hatte. Wenn Ihr nach Bethana kommt, mögt Ihr bei ihnen vorbeischauen, wo sie in einer Gasse nahe am Strand ihr Geschäft und Wohnhaus haben. Beide sind ja älter als ich, wer weiß ob sie noch leben, doch wie ich hörte, sollen sie mehrere Kinder haben, die ganz sicher das Geschäft weiterführen. Grüßt dann von der alten Guttli, die ihre Geschichte bis heute im Herzen trägt - welche ihr nun auch bis zum Ende gehört habt."
VW
Das Haupt des Barden senkt sich in tiefer Hochachtung vor der greisen Erzählerin. Es mag sein, dass sich an den Höfen mittlerweile die Unsitte des Händegeklappers durchgesetzt hat, doch im Herzen Albernias gibt es nur eine Währung, die eine Geschichte oder einen Sang tatsächlich bezahlen kann. Silber in seiner reinsten Form. Und so zuckt die Hand des Barden weder zu Gesicht noch zum Taschentuch, während die glitzernden Diamanten langsam seine Wangen herunterkollern und mit leisem Klingen auf die hölzerne Tischplatte fallen.
OHH
Guttlis Argument, sie könne doch eigentlich gar nicht von den Geschehnissen berichten, hält Widumir dann doch noch stehend am Tische zurück. Nur kurz schaut er dem Wirte nach und auch zur Türe, wo Vater Müller und Sohn Schaunwirmal zurückkehren.
Meja? Wer ist das nun wieder? Und Karline? Ein kaum sichtbares Achselzucken genügt Widumir, sich von solchen Nebensächlichkeiten zu befreien. Noch jemand bekommt seine Liebste, das ist doch hübsch genug, keine dummen Fragen zu stellen.
"Fein, fein", nickt er daher anerkennend der alten Geschichtenerzählerin zu und wünscht noch der gesammelten Tischanwesenheit eine "Gute Nacht!"
Weiter...
Ausschnittliste / Ehemalige Gäste / Lageplan
Redaktion und Lektorat: OHH 2015