Geschichte und Geschichten

Autoren: Oliver H. Herde, Ralf Büngener und andere

OHH

Man schreibt den 23ten Efferd des 2523ten Jahres nach Erscheinen des Horas.
Seit dem Morgen ist der Himmel weitgehend verborgen; nur hin und wieder schaut ein blaues Fleckchen durch die Wolkendecke auf die schwarz gepflasterte alte Reichsstraße zwischen Bethana und Pertakis herab, dass einem leicht das Zeitgefühl abhandenkommen kann. Trotzdem es nicht übermäßig heiß ist, klebt manch bravem Reisenden die Kleidung am Körper. Schließlich mündet die Schwüle in lustloses Getröpfel, welches sich kaum als Nieselregen brüsten darf. Unterstützt wird es durch einen lauen Luftzug, dessen Richtung sich schwerlich feststellen lässt.
Den grün angelaufenen Kupfereber neben der Türe zu dem weithin bekannten Gasthaus kümmert dies alles nicht. Seine Rolle wird sich einen Tag mehr darauf beschränken, all die mehr oder weniger strebsamen Einkehrer zu begrüßen. Gewiss wird es wieder einmal ein ganz besonderer Abend im Grünen Eber werden.

Vom Landesinneren her nahen zwei Gestalten, die eine zu Pferde, die andere schwingenden Schrittes nebenher. Diesem Fußgänger scheinen die Nieseltropfen noch nicht weiter aufgefallen zu sein, geht sein Blick doch nicht zum Himmelgrau empor, sondern irgendwo ins Nichts. Noch eine Geschichte will sie! "Vielleicht die von dem dreibeinigen Kapitän, der sich beim Klettern in dem Astloch verfing?"
Dramatisch hat der schlaksige junge Mann die Hand erhoben, als vermöchte man gleich hier am nächsten Baume den Bedauernswerten hängen sehen.

RB

"Wenn sie genau so lustig ist wie die mit dem Esel, nur heraus damit", antwortet die junge Reiterin. Sie blickt erwartungsvoll in die Richtung, in die ihr Begleiter zeigt, sieht aber an den Bäumen keinen dreibeinigen Kapitän sondern nur Tropfen hängen.
Mit einer Hand wischt sie über ihre Stirn und klebt mit der dabei gesammelten Mischung aus Schweiß und Regen die schwarze Haarsträhne wieder unter die Hutkrempe. "Willst du aufspringen? Tori hat es eilig ins Trockene zu kommen. Dann ist er bestimmt bereit, uns beide zu tragen." Sie schiebt die pralle Satteltasche ein bisschen aus dem Weg, verlangsamt aber nicht die Geschwindigkeit.

OHH

"So sei es, Holde!" ruft der Fußgänger empor, als müsse er mit seiner Stimme ein größeres Theaterpublikum erreichen. Mit einem Satz folgt er seinen Worten hinauf, lässt jene dann aber allein weiter gen Wolken streben, wenngleich er ihnen noch einen kurzen Moment nachschaut.
Dann kratzt er sich am wildhaarigen Haupte. Die Feuchtigkeit in den Haaren vermag diese zwar ein wenig in ihrem rotblonden Farbton zu verdunkeln, nicht jedoch sie an den Schädel zu kleistern. "Wo war ich? Wo werde ich sein? Ach ja, der Kapitän, der Bedauernswerte!" Wie in großer Furcht, vom Pferderücken zu purzeln, umklammert er den schlanken Leib vor sich. "Oh, es war schon ein ganz besonderer Kerl, dieser Hullheimer! Ein Auge versteckte sich unter einer schwarzen Klappe. Eine Hand war durch einen Haken ersetzt, die andere verfügte nur noch über vier Finger und ein Stummelchen."

RB

Das große, braune Pferd mit dem weißen Stern auf der Stirn scheut etwas, als der junge Mann sich so schwungvoll heraufschwingt. Schnell nimmt Jana die Zügel an, um ein Durchgehen zu verhindern, lässt es dann aber doch in den gewünschten Trab fallen. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ihr Begleiter auf diese Weise aufspringt und durch sein Umklammern macht er unzweifelhaft klar, dass er sicher angekommen ist. Außerdem sehnt sie sich selber danach, dieser Suppe zu entkommen und in trockener Kleidung in einer gemütlichen Gaststube zu sitzen. 'Auf das Jihaa verzichten wir aber diesmal', beschließt die Reiterin und denkt schmunzelnd und immer noch staunend an das Aufbäumen und Losgallopieren, das sie zustandegebracht hat, als er in Vinsalt das erste Mal aufgesprungen ist.
"Da hat der Kapitän aber teuer für sein drittes Bein bezahlt", kommentiert sie die Geschichte. "Und was wollte er auf einem Baum?" Die Stimme des Erzählers hat einen anregenden Klang. Fast meint die Schauspielerin, die Gestalt des Kapitäns auf der Straße zu sehen vor dem Haus, das sich nun schneller aus dem Dunst schält.

OHH

"Ja, je, ji, ha, nun... Zumal zwei der Beine aus Holz waren! Deswegen wollte ihm auch niemand glauben, dass er auf einen Baum klettern könnte", erklärt der Rücksitzer, wobei er ein Auge zukneift. "'Wie sollte das angehen!' dachten sich die braven Wirtsleut und die weniger braven Seeleut. Er aber beschwor es beim Schatz des vermoderten Kapitän Brabacciano - also, einem davon - dies doch zu können. Den wollte er denn auch einsetzen - also den Schatz, nicht den Vermoderten - und auf all jene verteilen - das wäre ja auch eklig, den Brabacciano zu verteilen!
Äh." Mit seinem offenen Auge schaut der Erzähler auf den vorbeigleitenden Boden hinab. "Wo ist er hin, der Faden?"

RB

"Da geht er hin, der Faden. Wo ist denn bloß die Souffleuse, wenn man sie mal braucht? Hinfort wie Käpt'n Brabaccianos Schatz. Hört, hört! Was wohl Brabacciano dazu sagen würde? Zumal der Schatz erst einmal gefunden werden muss.
Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andernmal erzählt werden. Obwohl sie bestimmt auch hochspannend und abenteuerlich ist", springt die Schauspielerin ein, um dem Geschichtenerzähler etwas mehr Zeit zu geben, seine Gedanken zu sammeln.
Dann allerdings verstummt sie, um dem Fortgang der Geschichte zu lauschen. In der Stille meint sie von dem eingebildeten Kapitän Gesang zu vernehmen. "Hat der Kapitän gesungen?"

OHH

Für einen Moment glaubt der Erzähler, den Faden entdeckt zu haben: Die Dame tritt ihn mit ihrer Frage gleichsam in den Schlamm neben der Straße.
"Gesungen!? Nicht, solange ich ihn kannte."
Die Vorstellung des damaligen Schankraumes, in welchem gerade ausdrücklich niemand ein Liedchen von sich gab, bringt die Erinnerung zurück, was es noch zu erzählen gibt: "Alle haben sie ganz andächtig grinsend und kichernd zugehört. Und jeder hat ihm einen Taler versprochen, wenn er das Kunststück doch schaffe. Denn niemand und auch keiner glaubte, diese Wette verlieren zu können. Da machte es denn auch niemandem etwas aus, nichts von dem Schatz zu bekommen, wenn man nur genügend zu lachen hätte."

RB

"Ganz schön gemein", kommentiert die junge Frau die Geschichte, ohne dabei besonders mitleidig zu klingen. "Aber da vorne singt ganz bestimmt einer." Inzwischen ist die Gestalt und auch das Gasthaus als solches zu erkennen. "Warst du hier schon mal?"

OHH

"Findest du? Ja, stimmt auffallend. Sicher, sicher", werden Aussagen und Frage nicht zum ersten Male in einem etwas unübersichtlichen gemeinsamen Abwasch beantwortet. Das Fräulein ist ja selbst schuld, wenn es so viele Themenwechsel vollzieht.
Allerdings gilt es entgegen all der Ablenkungen und versuchten Unterbrechungen seiner Reiseführerin ebenso wie lauthalser Passanten eine überaus wichtige Geschichte zu vollenden! Freilich erhält jene ihre Bedeutung nicht durch ihren Inhalt, sondern den alleinigen Umstand, dass sie eben nun einmal eine Geschichte ist.
"Hrm!" räuspert sich der Erzähler daher zwecks allseitiger geistiger Rückkehr zum Hauptthema. "Gemein wäre es gewesen, wenn sie auf Vorzeigen des Schatzes bestanden hätten. Immerhin hatte er ja nur ein Viertel der Schatzkarte!"

RB

"Das wird dann wohl peinlich, wenn er den Baum nicht hochkommt."
Vor dem Gasthaus pariert Jana das Pferd durch. Jetzt erkennt sie auch das Schild: "Zum Wildschwein? Ach nein, Zum Grünen Eber. Komischer Name. Aber lass dich nicht unterbrechen." Es scheint schon Betrieb zu sein.
"Hier bleiben wir heute", bestimmt die Dame dann in der Gewissheit, dass ihr Begleiter schon zustimmen wird. "Ich habe keine Lust mehr auf dieses suppige Wetter. Hier muss es doch irgendwo einen Stall geben."
Langsamen Schrittes reitet sie am Haus vorbei, auf die Hofeinfahrt zu. Als der singende Wanderer, der ihnen entgegenkommt, den Hut schwenkt, winkt sie fröhlich zurück. Einen verbalen Gruß verkneift sie sich, schließlich will sie die Geschichte nicht unterbrechen.

OHH

Auch der Beisitzer schwenkt kurz seine Hand zum Gruße des anscheinend Hutwinkenden, doch mit den Gedanken ist er weitgehend anderswo.
"Würde, käme", korrigiert er, was Jana vielleicht schon wieder entfallen sein mag. "Warum nicht Zum Grün Angelaufenen Keiler?" lässt er sich dann aber doch für einen Moment von seiner Geschichte ablenken. Die Angaben der Reiseleitung hingegen kann er getrost übergehen, ist er damit doch ohnehin quasi grundsätzlich einverstanden.

RB

"Auch ein komischer Name", kichert die Reiterin, während sie von der Straße aus in den Hof einbiegt.
"Hier gibt es zumindest mal eine Unterkunft für Tori", stellt sie fest, als sie die Stallgebäude zu beiden Seiten sieht. Und Leute sind dort auch, um einen Esel und einen Wagen geschart, offensichtlich ist dort eine Tränke. 'Alain', denkt Jana einen Moment lang, als sie den Bärtigen sieht. Aber nein, er ist viel zu kräftig und die Haare zu hell. Die Schauspielerin muss über sich selbst lächeln, dass sie ihn nach so kurzer Zeit schon so vermisst.
Sie bringt das Pferd in der Mitte des Hofes zum Stehen, setzt ihr Begrüßungslächeln auf und ruft freundlich: "Die Götter zum Gruße!"

OHH

Zwischen Reiterin und Hausecke sieht der Mitreiter gar nicht mal so viel von den Leuten. Winken kann man ja trotzdem auch dorthin.
"Ja, jedenfalls", kommt er dann ohne Umschweife wieder zum eigentlichen Thema zurück, "humpelte Kapitän Hullheimer dann unter allgemeinem Gejohle zu dem nächstbesten Baume. Aber wie still es plötzlich wurde, als er unglaublich behende den Stamm emporschlängelte. Der wusste wirklich fast jedes Körperteil einzusetzen! Die langen Gesichter hättest du sehen sollen!"
Irgend etwas hat der Erzähler übersehen. Ach ja: das Absitzen! Gedacht, getan, stößt er sich rücklings vom Pferde und landet er mit beiden Füßen sicher auf dem steingepflasterten Hofboden.

RB

Als sie so jung war wie das Mädchen dort, trug Jana zum letzten Mal das rot-weiße Kleidchen als Assistentin des Magiers, als sie mit den Gauklern zog. Das war noch bevor ihre Karriere als Schauspielerin begann. Und für ihre letzte Rolle als Tochter des alten Grafen wollte der Regisseur, dass sie jünger aussieht, als sie tatsächlich ist! Dabei hatte er die Rolle extra für sie ausgebaut. Die Erinnerung an das gerade zuendegegangene Theaterfestival lässt das Lächeln der Schauspielerin noch etwas breiter werden und ihre Augen trotz der unsichtbaren Sonne strahlen.
Da die anderen Reisenden sich mit dem Näherkommen Zeit lassen, wendet sie sich dem abgestiegenen Beschützer zu: "Ich versuche es mir vorzustellen, aber irgendwie kriege ich das dritte Bein nicht unter. Das musst du nochmal näher beschreiben."

OW

"Na, es gibt also doch noch Anstand in der Welt", denkt der Wandrer halblaut. Er erwidert die freundlichen Grüße der Reisenden, die von Osten her kamen, mit einem weiteren Schwenk des Strohhutes und einem Lächeln, bevor er sich den Hut wieder aufsetzt. Mit forschem Schritt passiert er den Unterstand, stapft ohne zu zögern vorbei am Weg zum Hof und strebt weiter der Vordertüre des Ebers entgegen.

OHH

Zunächst schaut der Erzähler drein, als habe er noch nie von einem dritten Bein gehört, so sehr reißt er die Augen auf.
Dann aber winkt er ab. "Ach so! Das hat er natürlich unten angelehnt. Es hätte ja nur gestört, das auch noch mit emporzuschleppen. Mal ehrlich: Seine viereinhalb Finger brauchte er schließlich zum Klettern!" Hier ist ein rügendes Kopfschütteln angebracht. Was denkt sich das Mädel nur! "Ts!"

RB

"Ach so, das war dann wohl eins von den hölzernen", lacht Jana.
'Wieso vier Finger?' überlegt sie, während sie etwas weniger schwungvoll vom Pferd steigt. 'Das muss wohl der Haken auf der einen Seite und die vier Finger auf der anderen Seite sein.'
"Da muss er aber stolz gewesen sein."

LR

Irinio hat derweilen dem Eberknecht das Grauchen - und ein dankbares Lächeln -anvertraut, auf alle Grüße mit einem artigen Nicken geantwortet und auf dem kurzen Weg zu Schwester und Karren kurz noch einmal innegehalten, um sich umzusehen - der Eber scheint heute recht viele Gäste zu bekommen.

NW

"Die Götter zum Gruße!" Freundlich, fast schon fröhlich, und mit unverhohlener Neugier im Blick werden die Neuankömmlinge begrüßt.
Doch als Irinio sich nähert, reißt sie sich von dem Anblick los und packt mit an, um den Wagen unter das Vordach des Unterstands zu bugsieren. Ihre Holzschuhe machen es ihr dabei auf dem schon etwas feuchten Boden nicht leicht, einmal rutscht sie gar ab und kann sich gerade noch am Wagen fest- und aufrechthalten.

FH

Hufschlag ertönt und weitere Reisende erreichen den Hof, ehe noch Alrik mit dem Eselchen im Schlepptau das Weite suchen kann. Immerhin - das bunte Volk kommt zu zweit auf einem Pferd, konstatiert der Knecht, während schon der eine der beiden Neuankömmlinge - fast ohne seinen Redeschwall zu unterbrechen - auf gradezu akrobatische Weise absitzt.
"Travia zum Gruße", erwidert Alrik, "und willkommen im Grünen Eber! Ich bin Alrik", fügt er hinzu. Die genaue Bezeichnung seiner Aufgaben spart er sich angesichts der Offensichtlichkeit. "Ihr könnt euer Ross schon mal tränken", er weist auf den Trog. "Ich bringe derweil gerade das Grauchen in den Stall, dann kann ich übernehmen." Er nickt den Gästen freundlich zu und macht sich daran, das Eselchen in Richtung des Unterstandes zu führen.

OHH

Großherzig werden die Einheimischen mit allerlei freundlichem Grußgenicke bedacht. Es ist schon ein lustiges und vor allem seltsames Völkchen hierzulande! Ständig mit Leuten auf der Zunge, die sie nie selbstpersönlich gesehen haben! Ein vorwitziges Zwinkern zu rothaarigen Mädels soll aber noch nie geschadet haben, also bekommt es eins.
Was die Vierbeine anbelangt, gehören sie mehr in das Gebiet der Reiseleiterin, weswegen sich der Erzähler wieder auf das zu Erzählende zurückzubesinnen befleißigt. Allzu viel zu sagen gibt es ja eigentlich nicht mehr. Seine Zuhörerin hat aber doch ganz gut aufgepasst.
"Ja, genau", bestätigt er ihre beiden Schlussfolgerungen gleichermaßen. "Das einzige Ärgernis blieb der Abstieg. Da der Kapitän unten so schlecht gucken konnte, stieg er mit dem anderen Holzbein direkt in ein Astloch - wie du sicher schon vermutet hast. So hatte er die Wette zwar gewonnen, da sie um das Hinaufklettern geschlossen wurde, und doch hing er ziemlich hilflos dort oben, weil er sich nicht allein lösen konnte."

RB

Als Alrik zunächst das Gasthaus und dann sich selbst vorstellt, jubelt Jana zunächst: "Ich hatte recht!" Dann stellt sie sich lachend selbst vor: "Du bist Alrik und ich bin Alrike. Alrike Rahjana. Aber du kannst mich Jana nennen. Das ist Widumir."
Nachdem sie ihn vorgestellt hat, bleibt die Schauspielerin dem Erzähler zugewandt: "Es hat ihm doch dann hoffentlich jemand geholfen."
Dann ergreift sie die Zügel und führt Tori im Bogen um den Eselskarren mit dem stillen Jungen und seiner fröhlichen Schwester herum zur Tränke. Dabei wundert sie sich, dass sie sich eben mit ihrem ersten Vornamen vorgestellt hat. Außer Papa und dessen Frau hat sie fast nie jemand Alrike genannt.

OHH

Jana ist eine Rechthaberin und heißt gar nicht Jana? Das sind ja dolle Neuigkeiten! Der Vorgestellte macht sich jedoch keine Vorstellungen davon, was dies möglicherweise bedeuten mag. Man hat ja eine gewisse Verantwortung.
"Ja, ich", bestätigt er die Hoffnung der Zuhörerin. Dann pustet er in die Luft - was immer das nun wieder heißen soll - derweil seine Augen so ziemlich alle Anwesenden gleichzeitig zu verfolgen suchen, was freilich nur schiefgehen kann.

Fortsetzung


Ausschnittliste / Ehemalige Gäste / Lageplan

Redaktion und Lektorat: OHH 2013