Das Wagenrennen um Engasal: Ucurian

Spielleiter: Oliver H. Herde, Ucurian: Hartmut C. Lehmler

Wir schreiben einen herrlichen Frühlingstag, an dem Ucurian bar jeglicher Verpflichtungen ist. Das Volk eilt geschäftig durch die Straßen, die Marktplätze sind von verschiedensten Wohlgerüchen erfüllt. Von den Notzeiten im Norden merkt man hier und heute nichts.
Gemütlich schlendert Ucurian über eine der belebten Straßen Gareths. Endlich wieder in der Metropole des Reiches. Auf die Dauer wird es einem in der Provinz schon langweilig.
'Ich muss heute unbedingt noch bei den alten Regimentskameraden vorbeischauen. Bevor die feine Gesellschaft mich wieder mit ihren Verpflichtungen eindeckt.'
Ucurian verzieht den Mund. 'Hoffentlich versuchen nicht wieder sämtliche Mütter unverheirateter Töchter mich zu verkuppeln!'
Schnell schüttelt Ucurian diese trüben Gedanken ab und beginnt, ein altes Marschlied vor sich hin zu pfeifen. 'Hmm, ein neuer Turniersattel wäre nötig. Ich muss nachher unbedingt noch beim Sattler vorbeigehen. Aber zuerst...' Ucurian biegt in Richtung der Kaiserthermen ab.
Die Thermen sind offensichtlich so gut besucht wie immer. Ein Gardist, der Ucurians Gesicht wohl kennt, kommt ihm entgegen, grüßt ihn gebührlich und geht weiter seiner Wege. Da dringt ein herzerweichendes Gewimmer an Ucurians Ohren. Ein Kind steht nicht weit hinter den Thermen und weint.
Ucurian kuckt sich suchend um, ob er die Ursache für den Kummer des Kindes erkennen kann, oder ob jemand in der Nähe ist, zu dem das Kind gehört. Fast ist er versucht, einfach weiter zu gehen, aber ist es nicht seine Aufgabe, sich um die Schwachen und Hilflosen zu kümmern? Langsam nähert er sich dem Kind und versucht, möglichst unbedrohlich auszusehen. Das ist bei seiner Statur und der Waffe an seiner Seite gar nicht so einfach, aber er gibt sich alle Mühe.
Niemand scheint sich für das Kind zu interessieren. Im Gegenteil, die Leute schlagen alle eine Bogen darum, um sich nicht damit befassen zu müssen.
Es handelt sich um einen kleinen rundlichen Jungen, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Als er Ucurian näher kommen sieht, blinzelt er ihn traurig an. Angst scheint er keine zu haben; etwas anderes beschäftigt ihn wohl allzu sehr.

In dieser Situation kommt es Ucurian zugute, dass er sich etwas mit Kindern auskennt, schließlich hat er sich schon öfters um die Kinder seiner älteren Schwester kümmern dürfen. Er setzt ein freundliches Lächeln auf und geht in die Knie, damit der Junge nicht so sehr zu ihm aufsehen muß. Mit einer beruhigenden, tröstenden Stimme fragt er ihn: "Na mein Junge, was ist denn los? Bist du hier ganz alleine? Wo ist denn deine Mutter?"
Schon brechen neue Tränen hervor. "Ich weiß nicht." Der Rest geht in einem Schluchzen unter.
Kurze Zeit ist Ucurian unentschlossen, dann legt er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. "Kopf hoch Junge, wir werden deine Eltern schon finden. Komm, du bist doch ein großer Junge, und Krieger weinen nicht, nicht wahr? Wie heißt du denn?"
"Gerio", erwidert der kleine Mann und wischt sich die Tränen am Ärmel ab. Es ist ein recht teurer Stoff, doch entdeckt Ucurian bei näherem Hinsehen ein gestopftes Loch, als wollte hier jemand mit Geld selbiges sparen.
Ucurian gibt dem Jungen noch ein wenig Zeit, sich zu beruhigen. Aufmunternd lächelt er ihm zu. "Nun dann, mein werter Gerio. Würdest du mir bitte sagen, was dich so alleine hierhin verschlagen hat und was die Ursache deines Kummers ist?"
"Ich hab mit meinen Geschwistern verstecken gespielt, und jetzt finde ich nicht mehr nach Hause", antwortet der kleine Kerl.
Mit einem leichten Kopfschütteln betrachtet Ucurian den Jungen. So etwas wäre ihm früher nie passiert, diese Stadtkinder!
"Na, dann wollen wir mal schauen, ob wir dich nach Hause bringen können. Wie heißen den deine Eltern, und wo wohnen sie?"
"Sie heißen Mami und Papi" erwidert der Stepke logischerweise. Aber eine kleine Information kann er doch noch bieten: "Sie wohnen in einem großen blauweißen Haus, wo viele Fische auf Tüchern hängen."
Allzu viel kann der Kleine ihm ja nicht mitteilen. Ucurian grinst sardonisch. Er hätte es ja besser wissen müssen. Nun gut, vielleicht bringt ihn die Sache mit den Fischen weiter. Hmm, ein Blau-weißes Haus mit Fischen auf Tüchern. Vielleicht ein Wappen? Welche Familie hat ein Wappen mit Fischen? Oder ein Fischgeschäft. Wie der Sohn eines Adeligen sieht der Junge nicht unbedingt aus. Ein Händler wäre da schon eher ein Kandidat. Oder wie wäre es mit dem Efferd-Tempel? Das würde auch passen. Krampfhaft versucht sich Ucurian an den Efferd-Tempel von Gareth zu erinnern. Allzu viel hatte er bisher nicht mit dem Gott der Meere zu tun. Vielleicht sollte er dem in nächster Zeit abhelfen.
"Ist es ein großes Haus, das Haus deiner Eltern? Liegt es an einem Platz oder an einer Staße?"
"Ja, seeeehr groß", beteuert der kleine armeschwingend, und seine Traurigkeit weicht in rasantem Tempo einem wunderlich anmutendem Stolz. Dann überlegt er kurz. "An einer Straße."
Langsam aber stetig kommt man der Sache auf den Grund. "Ist das Haus deiner Eltern so groß wie die Thermen?" Ucurian weist auf das Gebäude, vor dem die beiden sich befinden.
"Wohnt ihr alleine in dem Haus, oder wohnen da auch noch andere Menschen?"
Gerio schaut mit staunenden Kulleraugen auf die Thermen. "Nein, sooo groß nicht!"
Auf die zweite Frage erwidert er wieder stolz, fast ein wenig höchnäsig wirkend: "Ja, auch andere. Mein Papa ist nähmlich der königliche Bootsfahrer!"

Zweifelnd und langsam der Verzweiflung nahe schaut Ucurian den Knaben vor sich an. Der königliche Bootsfahrer? Das wird ja immer besser. "Dann trägt dein Vater auch sicherlich eine besonderes Gewand. Würdest du es mir beschreiben?"
Der kleine überlegt und überlegt... Scheinbar überfordert ihn diese Frage ein wenig. "Manchmal trägt er eine weiße Perücke und einen Mantel mit einem weißen Fisch", antwortet er schließlich.
Halb im Scherz fragt Ucurian den Knirps: "Dein Vater ist nicht zufällig der Fischlieferant des Hofes, oder?"
Überlegend legt Gerio den Finger auf den Mund. "Ich weiß nicht", erwidert er ratlos. So bleibt Ucurian nur übrig, nochmals die Variante des Wappens zu erwägen. So auf Anhieb fallen ihm nur zwei bekannte ein, die einen weißen Fisch tragen: Das Herzogtum Nordmarken und das Königreich Nostria.
Ucurian denkt bedächtig nach und nickt dann. Ein Fisch als Wappentier, da fällt ihm zuallererst die Salzarele Nostrias ein. Das würde auch zu dem geflickten Kleidungsstück passen. Außerdem hatte der Junge von einem König gesprochen, nicht vom Reichsbehüter oder Kaiser.
"Komm mit, mein junger Freund. Ich hab da vielleicht eine Idee." Ucurian faßt den Jungen bei der Hand und erhebt sich. Langsam setzt er sich in Richtung nostrianische Botschaft in Bewegung.
Der Kleine läßt sich vertrauensseelig durch die belebten großen Straßen Gareths führen.
Als sie sich der nostrischen Botschaft auf Sichtweite nähern, ruft Gerio: "Ja, toll, da ist es!"
Der Wächter vor der Botschaft grüßt die beiden Ankommenden respektvoll indem er Haltung annimmt. Er hält Ucurian wohl für eine Leibwache Gerios, den er offenbar kennt - oder für dessen Kindermädchen.

In einem respektgebietenden Ton wendet sich Ucurian an die Wache: "Mein Name ist Ucurian von Waldeslohe. Ich würde gerne den Vater dieses Jungen sprechen."
Erschrocken schaut der Wachmann auf. Offensichtlich hält er die Angelegenheit für höchst dringlich, da er zutiefst besorgt auf das Kind schaut, während er erwidert: "Jawohl, ich werde den Botschafter sogleich unterrichten!" Damit stürmt er zur Türe hinein. "Alrike!"
Gerio geht unbefangen hinterher. Die Eingangshalle wird vom Nostrischen Wappen beherrscht, auch die Einrichtung trägt vielfach die Farben Weiß und Blau.

Ucurian folgt Gerio in das Haus und schaut sich aufmerksam in der Eingangshalle um. 'So so, den Herren Botschafter will er holen. Na, da hab ich ja scheinbar jemand wichtigen aufgelesen.' Bei diesem Gedanken umspielt ein ironisches Lächeln Ucurians Lippen. Dann harrt er der Dinge die da kommen mögen.
Zuerst erscheint jene gerufene Alrike, eine Bedienstete des Hauses, eigentlich um Ucurian willkommen zu heißen und ihm einen Platz anzubieten. Doch da erscheint schon der Wächter, und ihm folgt der Nostrische Botschafter in seiner Amtsgewandung mit dem unübersehbaren Wappen. "Gerio, meine muntere Salzarele, wo hast du dich nur wieder herumgetrieben?" Er nimmt den Kleinen kurz in die Arme.
"Ich hatte mich verlaufen, und er hat mich gerettet." Gerio weist auf Ucurian.
Da stellt ihn der Botschafter wieder ab und wird im Tone strenger: "Ich hatte dir doch gesagt, nicht den Hof zu verlassen. Etwas weniger andergastsche Disziplin, mein Junge!"
Dann wendet er sich an Ucurian: "Seid mir von Herzen bedankt! Und seid mein Gast! Ihr sollt eine Belohnung erhalten!"

Abwehrend hebt Ucurian die Hände. "Nein, nein, eine Belohnung ist nicht nötig. Das hätte doch jeder getan. Ich habe Ihren Herrn Sohn übrigens bei den Kaiserthermen aufgelesen. Herauszufinden, wo er wohnt war schon eine etwas kniffligere Aufgabe."
"Hach ja..." Versonnen streicht der Botschafter seinem Söhnchen durchs Haar. Dann wird sein Blick wieder fester. "Aber erlaubt mir, Euch als meinen Gast einzuladen!"
Ucurian deutet eine Verbeugung an. "Es ist mir eine Ehre, Eure Exzellenz. Mein Name ist übrigens Ucurian von Waldeslohe."

Tja, und damit hatte ich ihn. Was Ucurian nicht ahnte: Der Botschafter gedachte, ihn zu sich nach Hause einzuladen, nach Norddrakenburg, welches zufälligerweise direkt gegenüber von Engasal liegt, in welchem ebenso zufällig in jener Zeit ein Wagenrennen stattfinden sollte...


Das Wagenrennen rund um Engasal