Morgenplausch

von Friederike Hölscher und Oliver H. Herde

In jener Zeit, da Riftar nach dem gemeinsamen Abenteuer auf Maraskan bei Atreo in Engasal weilt, ist es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis er den Einhändigen barbrüstig erblickt: Ein Brandmal von der Form mehrerer Schuppen - so weiß mancher bereits zu berichten - ziert den Rumpf Atreos, just an jener Stelle, wohinter sich das Herz verbirgt.
Fasziniert starrt Riftar darauf und schaut Atreo mit hochachtungsvoller Neugier an. "Bestimmt eine fantastische Geschichte dahinter!?"
"In der Tat, wir hatten seinerzeit - es mag bald 20 Jahre her sein - eine Begegnung mit einem Riesenlindwurm. Drei Köpfe! Aber wir waren immerhin zu fünft und nicht mehr ganz unerfahren, dass wir ihn mit einiger Not bezwingen konnten.
Als er dort in seinem Blute lag, kam unser übergeschnappter Krieger auf die verrückte Idee, sich in die heiße Flüssigkeit zu werfen, um darin zu baden. Vielleicht hast du auch schon einmal von einer solchen Geschichte gehört, dass eine solche Zeremonie wundersame Wirkung haben soll...
Ich muss gestehen, wir anderen wollten Ektarus nicht nachstehen, also folgten wir ihm. Den Schelm hätte dies um ein Haar das Leben gekostet. Und ein jeder von uns trug ein magisches Brandmal davon, welches von der arkanen Kraft des Drachen zeugt. Ich war nie besonders vorsichtig in meinem Leben, aber seitdem ist es wirklich schwer, mich mit irgend etwas zu schrecken..."
Bei Atreos Ausführungen ziehen sich Riftars Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen. 'In Drachenblut baden - das klingt ja höchst dramatisch und macht sicher viel Eindruck - aber sowohl zum Baden als auch zum Leute beeindrucken könnte ich mir Angenehmeres vorstellen...'
Er schüttelt sich leicht. "Und", fragt er dann mit allen Anzeichen der Bewunderung seinen Gastgeber, "hatte es irgendwelche Wirkung? Hinterher, meine ich? Und was passierte, als ihr euch hineingestürzt habt?"
"Durchaus." Atreo schmunzelt breit. "Was haben wir vor schmerzen geschrien! Heiß, heiß, heiß, sage ich dir!
Die Wirkung auf uns war sehr unterschiedlich. Alandra... ähm..." - die Stirn runzelt sich zusammen - "unsere damalige Hesindegeweihte bekam einen Eindruck drachischer Verständigung: Gedankenübertragung!" Für einen Moment scheint er über etwas zu sinnieren, schüttelt dann aber den Kopf.
"Nun ja, bei mir war es eine gewisse Furchtlosigkeit. Mein Respekt hat sich schon immer in Grenzen gehalten, aber seitdem... Ich bin sehr gespannt, wann mich das den Kopf kostet!" Dabei macht er allerdings keinen besorgten oder auch nur ernsthaften Eindruck.
Die Andeutung eines Grinsens macht sich auf Riftars Gesicht breit. "So, und diese seltsame... Furchtlosigkeit hast du tatsächlich erst NACH dem Bad verspürt? Wovor fürchtest du dich denn JETZT bitte noch, wenn die Frage erlaubt ist?" Der Tonfall der Frage ist nicht ganz so unschuldig wie Riftars Gesichtsausdruck.
Ein erfrischtes, unbeschwertes Lächeln breitet sich bei Riftars erster Frage auf Atreos Antlitz aus; bei der zweiten jedoch gefriert es unvermittelt ein, um nach kurzem Zögern in sich zusammenzustürzen. Offenbar gibt es da tatsächlich etwas, das ihm einfiele. Doch schon reißt er sich wieder zusammen, verdrängt den Gedanken und erwidert schmunzelnd: "Wohl richtig, das Bad verstäkte lediglich Anlagen, die in uns bereits gegeben waren. Hast du vor etwas Angst, so wird es dich um so früher... packen..." Am Ende wird Atreo leiser und langsamer und erbleicht in seiner Erkenntnis.
Aha, da ist doch tatsächlich noch etwas im Busche! Riftar schluckt das nächste Bonmot herunter, bevor es über seine Lippen kommt, und sieht Atreo mit leicht hochgezogenen Augenbrauen abwartend an.
Jener bemerkt wohl, was ungefähr in Riftar vorgeht. Schon kommt wieder Farbe in sein Gesicht. Ein Zucken der Augenbraue, ein weiteres in den Mundwinkeln, blickt er seinem Gegenüber beinahe fragend in die Augen. "Du" - er muss sich räuspern, bevor er fortfahren kann - "willst wissen, wovor ich Angst habe? Vor der Langeweile..." Er schmunzelt dabei, wird aber schlagartig wieder ernst. "...und vor der Einsamkeit."
Riftar nickt bedächtig. Dann hebt er ebenso bedächtig den Zeigefinger, um die Brille auf seiner Adlernase ein Stück höher zu befördern.
"Ja, mein Lieber, dafür habe ich vollstes Verständnis; und, wenn du mir die Bemerkung gestattest: Ich bin nach reiflicher Überlegung zu der Erkenntnis gekommen, dass eben diese Ängste nicht nur nichts sind, wofür man sich schämen müsste, sondern dass sie einem Manne sogar zur Ehre gereichen. Übrigens", fährt er strahlend fort, "stehen sie auf der Liste meiner Ängste auch ziemlich weit oben - wenn ich auch", fügt er mit einem jetzt etwas schiefen Lächeln hinzu, "in letzter Zeit mich genötigt sah, dieser Liste noch das Eine oder Andere hinzuzufügen... aus reinem Selbsterhaltungstrieb, versteht sich!"
Träumerisch starrt er in die Luft. "Wenn ich`s allerdings recht bedenke, dann will mir partout nicht einfallen, wann ich mich schon einmal gelangweilt hätte..."
Atreo reagiert sichtlich überrascht, als Riftar diese besonderen Ängste als etwas Ehrenvolles bezeichnet, doch kommt er nicht zu einer Nachfrage. "Du Glücklicher", kommentiert er trocken die letzte Bemerkung, um anschließend die vorige aufzugreifen: "Ängste vor Blättern und Gräsern?" erkundigt er sich schmunzelnd.
Den Blick, den Riftar seinem Gastgeber zuwirft, könnte man durchaus als angewidert bezeichnen. "Nun, sagen wir, ich betrachte Gräser und Blätter mit ganz neuen Augen... Aber die Sache mit dem Pferd fand ich wesentlich unheimlicher - ganz zu schweigen von der... äh... Begegnung mit... dem mit den vielen Armen!" Riftar schaudert. Dann breitet sich unvermittelt der leicht verträumte Ausdruck über sein Gesicht, den Atreo mit Sicherheit aus Situationen kennt, in denen sein Freund sich geistig herausgefordert fühlt. "Obwohl ich mich noch immer frage..."
Neugierig beugt sich Atreo vor, die Hand auf den Stumpf gelegt und das Kinn etwas schief auf beides aufstützend. "Ja...?"
"...WAS genau den eigentlich daran gehindert hat, uns alle einschließlich des Prinzen, des Djinnenbeschwörers und des hochgelehrten Herrn in ebendem Zustand zurückzulassen, in dem sich die bedauernswerten Schmuggler befanden, als er mit ihnen fertig war."
Riftar runzelt die Stirn und fährt sich mit gespreizten Fingern durch seine Lockenmähne. Dann schaut er Atreo wieder ins Gesicht.
"Weißt du, das mit dem Feuer war bestimmt eine gute Idee - fand ich jedenfalls." Er feixt. "Aber", fährt er wieder ernster fort, "so ganz kann ich nicht glauben, dass es... so einfach wäre - wenn du verstehst, was ich meine."
"Ich bin nicht sicher... schließlich war ich außerhalb mit meinen drei Halsabschneidern beschäftigt und habe nicht alle Details mitbekommen." Er bemerkt selbst kaum, dass er die Tatsache unterschlägt, wie bald einer der erwähnten Gegner sich abgewendet hatte, um sich gegen den Norbarden zur Wehr zu setzen. Atreo lehnt sich wieder bequem zurück. "Aber wie auch immer, so ein Dämon ist ja auch keine unbesiegbare Gottheit. Und wenn er von seinem Beschwörer nicht beherrscht werden konnte... Naja, vielleicht ist er einfach gegangen, als ihm langweilig wurde...?" Es ist schwer zu sagen, wie ernst Atreo diese Möglichkeit in Erwägung zieht. Das herausfordernde Blitzen in seinen Augen scheint im Wiederspruch zu den Sorgenfalten auf seiner Stirn zu stehen.
Riftars Stirn hingegen legt sich in halb zweifelnde, halb ironische Diagonalfalten. "Wäre aber ein seltsamer Zufall, wenn ihm ausgerechnet in dem Augenblick langweilig geworden wäre, als nur noch wir sechs, der Prinz und der Djinnenbeschwörer am Leben waren, nachdem er sämtliche an der Geschichte Unbeteiligten im Nullkommanichts" - bei der Erinnerung an seine Begegnung mit den sterblichen Überresten der Unglücklichen läuft Riftar ein Schauder über den Rücken - "brrr... in der Luft zerrissen hatte."
Atreo wackelt unschlüssig mit dem Kopfe. "Wer weiß schon, was in einem Dämonen vorgeht! Vielleicht gefiel es ihm gerade, nur die Unbeteiligten zu töten. Wobei ich gar nicht recht weiß, ob sie unbeteiligt waren, und wenn ja, woran eigentlich. Ich hätte nicht in die Politik gehen sollen, wo ich doch solche Zusammenhänge noch nie recht zu überschauen vermochte. Vielleicht bin ich auch langsam zu alt für all das..."
Und tatsächlich! Nun, da er diese Worte spricht, wirkt er beinahe wie ein Greis: Gebeugt und grüblerisch.
Mit leicht schiefgelegtem Kopf und dem Blick einer neugierigen Krähe betrachtet Riftar den Freund. Etwas, was Atreo vor seinem plötzlichen Stimmungsumschwung gesagt hat, schwebt wie ein Glühwürmchen durch seinen Geist. Er wird ihm später folgen.
Atreos letzte Worte lassen eigentlich nur eine Antwort zu. "Für all das?" Seine Finger vollführen eine verschlungene Geste in der Luft. "Mein Freund, ich glaube, ich fürchte, erste Anzeichen einer üblen Krankheit an dir wahrzunehmen - ganz sicher", fährt er in betont zuversichtlichem Tonfall fort, "eine von den Göttern gesandte Prüfung, um dich so schnell wie möglich wieder auf den Pfad des höheren Unfugs - ich meine selbstverständlich der Tugend, aller Ritterlichen etcetera - zurückzuführen." Ernst und sehr eindringlich meint er: "Lieber Freund! Du fängst an, dich zu langweilen! Und dagegen sollte man schnellstens etwas unternehmen, bevor dieser Zustand chronisch und möglicherweise unheilbar wird, was in der Tat entsetzliche Folgen nach sich ziehen würde..."
"Du magst recht haben", murmelt Atreo. Erst einen Moment später scheint er aber Riftars Worte endgültig bewusst geworden zu sein, als er fast provozierend schmunzelnd hinzusetzt: "So bist du folglich der Ansicht, man werde für `all das' erst zu alt, wenn man sich daran nicht mehr beteiligt? Ob solches für den gewöhnlichen Bürger stimmt, vermag ich nicht zu sagen, aber mich hast du damit sicherlich gut erkannt."
"Genau das hab' ich gemeint, du mit unvergleichlichem Scharfblick gesegneter Liebling der Herrin Hesinde (möge sie uns weiterhin mit ihrer Gunst beschenken)!" Die hellgrünen Augen hinter den Brillengläsern funkeln vergnügt.
"Ein allzu ruhiges Leben ist meiner bescheidenen Meinung nach einem scharfen Geist und einem tapferen Herzen auf die Dauer nicht zuträglich... obwohl ich mich kaum rühmen kann, diese Tatsache am eigenen Leibe erfahren zu haben - weil ich nämlich noch nie ein ruhiges Leben geführt habe, bevor du jetzt anfängst, andere Schlüsse zu ziehen", setzt er rasch hinzu.
Einen Moment lang überlegt Atreo, welche Schlüsse er wohl sonst hätte ziehen sollen, doch kommt er ohne Einsatz von Böswilligkeit auf keine rechte Lösung.
So öffnet er jene Tür, aus der beide zur morgendlichen Selbstbefeuchtung hinausgetreten waren, um wieder in die vergleichsweise warme kleine Küche zurückzukehren. Dass diese nicht viel Benutzung findet, ist offenkundig, hat doch das wenige Geschirr vom gestrigen ersten Abendessen mit dem neuen Gast den Abwasch mehr als verdoppelt. Flecken von Fett und Soßen sucht man hier vergeblich, dafür findet man um so mehr Staub.
Während er aus der winzigen Vorratskammer Brot, Wurst und Käse hervorholt, erwidert er: "Das weiß ich zu bestätigen. Man muss den Geist eines Menschen nur zu wecken wissen. Ich habe sowas schon bei Bauern erlebt."
Während Riftar seinem Gastgeber ins Haus folgt, zieht er sich schon das Hemd über den Kopf - an die Temperaturen in diesen nördlichen Breiten wird sich der schlaksige Almadaner nicht so schnell gewöhnen!
Die Knöpfe seines verschossenen schwarzen Samtrocks schließend, beobachtet er fasziniert Atreos Frühstücksvorbereitungen, so dass dessen letzte Worte erst etwas verspätet in sein Bewusstsein dringen. "Bei Bauern?"
Der Einhändige legt alles auf den Küchentisch und setzt sich. "Ja, die gelten doch gemeinhin als recht einfältig. Und das sind sie zweifellos auch, wenn auch möglicherweise lediglich aus dem Grunde, dass sie für ihre Arbeit nicht gerade geistige Anforderungen zu erfüllen haben. Wie soll man sich Gedanken über die Welt machen, wenn man sie nicht kennt?"
Bevor er sich gleichfalls an den Tisch setzt, fährt sich Riftar mit gespreizten Fingern durch die noch feuchte nachtschwarze Lockenpracht.
Nachdenklich gibt er zur Antwort: "Ich weiss nicht - ehrlich gesagt mache ich mir am liebsten Gedanken über die Dinge, die ich noch nicht kenne... Du meinst, wenn man dem Geist etwas zu tun gibt, mag sich auch ein Bauer als scharfsinnig erweisen? Warum denn auch nicht - es würde mich nicht überraschen."
Breitgrinsend erwidert Atreo: "Dann sind wir ja einer Meinung!" Nebenbei stopft er sich Wurst und Brot in den Rachen, bevor er mit noch halbvollem Munde auf das Vorige eingeht. "Über etwas nachzudenken, das man nicht kennt, führt doch eigentlich zu wenig. Blanke Theorie mag gewisse Elfen oder Magier begeistern, aber letztlich hat man davon nichts, wenn man am Ende merkt, dass die Realität anders ist, als man vermutete."
Feierlich beginnt Riftar, hauchdünne Scheiben vom Käse abzusäbeln, wobei er nachdenklich den Kopf wiegt. "Ich würde es, ehrlich gesagt, gerade andersherum betrachten. Das Denken und Nachdenken aus reinem Spaß an der Sache, das Fädenspinnen und Fabulieren ist an sich schon eine aufregende und wunderbare Sache."
Mit flinken Fingern rollt er zwei der Käsescheiben zu einem blütenähnlichen Gebilde zusammen, welches er er liebevoll betrachtet, bevor er es in den Mund schiebt.
"Dein Käse ist hervorragend, Freund. Ja, und die Realität, wie du die praktische Seite der Dinge nennst, ist auch aufregend und wunderbar - nun, sagen wir, manchmal mit anderen Schwerpunkten.
Da haben wir nun also folgende Axiome: Primo - die Theorie ist aufregend. Secundo - die Theorie versucht, die Praxis zu beschreiben. Und was, mein abenteuerlicher Freund, der sich vor der Langeweile fürchtet, findest du spannender: Wenn die Praxis deine theoretische Theorie einfach nur brav bestätigt, oder aber, wenn sie sich, wie sie es ja meistens tut, ganz und gar unerwartet gebärdet, so dass vor deinem staunenden Auge noch ein dritter, äußerst aufregender Sachverhalt aufscheint?"
Atreo lächelt nur kurz, als sein Käse gelobt wird. Das Thema ändert sich sogleich wieder, und außerdem ist in jenem Moment sein Mund ohnehin allzu reichlich gefüllt.
Mit einer Wurst auf Riftar deutend, erwidert er: "Ich weiß nichts von Achselgnomen, aber wenn ich mir nichts oder wenig vorstelle, ist es für mich ebenso überraschend, wenn auch weniger enttäuschend, sofern ich es mir schöner vorstellte." Und schwupps, ist die Hälfte des Würstchens zwischen seinen Zähnen verschwunden.
Riftar, eben noch ganz versunken in die Herstellung eines weiteren Käseblümchens, hebt überrascht den Blick. "Von WAS?"
Bevor Atreo antworten kann, fügt er mit bedauerndem Blick auf sein Werk (wobei nicht ganz auszumachen ist, ob er das Blümchen ob seines bevorstehenden Schicksals bedauert, ob er den Aufschub dieses Schicksals oder ob er seinen Gastgeber bedauert) hinzu: "Aber in dem Fall hast du dich um das Vergnügen gebracht, dir etwas vorzustellen."
Nach dieser schlichten Feststellung erfüllt sich das Schicksal des filigranen Kunstwerks auf ebenso profane Weise wie das des Würstchens in Atreos Hand.
Zuerst wandern die Augenbrauen empor, dann legt sich der Kopf schief, anschließend wird der Blick ernst, woraufhin sich ein Schmunzeln über Atreos Lippen legt. "Nun, wenn ich mir Dinge vorstelle, so solche, von denen ich weiß oder zumindest ahne, dass sie sich nicht bewahrheiten werden - eben WEIL ich weiß, dass sie sich nicht bewahrheiten werden. Eine schöne Vorstellung mit Aussicht auf Verwirklichung möchte ich doch schnell umsetzen! Und einer schlechten weiche ich besser eilig aus."
Riftar seufzt.
"Du bist ein wahres Kind des Phexfuchs, mein Freund - möge er dich auf immerdar mit seiner Gunst beschenken. Pragmatisch, möchte ich sagen."
Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch und legt die Spitzen seiner langen Finger aneinander, um durch den so entstandenen Spitzbogen hindurch Atreo anzublinzeln.
"Für mich hingegen ist es bei der Vorstellung von etwas zunächst einmal völlig unerheblich, ob überhaupt irgendeine Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie jemals Wirklichkeit wird - oder anders ausgedrückt, sie besitzt schon in dem Augenblick genug Wirklichkeit, um mich voll und ganz zu beschäftigen. Es ist wie Träumen: Wenn ich träume, ist das wirklich genug, solange ich träume - auch ohne, dass ich mir schon im Traum Gedanken darüber machen würde, ob der Traum sich auch auf das `wache' Leben auswirken wird."
Versonnen schaut er in die Luft, als verfolge er den Flug eines Schmetterlings durch die Küche.
"Würdest du alle deine Träume hergeben, nur um den schlechten auszuweichen?"
"Gewiss nicht, aber es ging mir nicht nur um schlechte Träume, sondern auch um eigentlich schöne. Es ist nur deprimierend, wenn man einem Wunsch ohne jegliche Aussicht auf Erfolg nachhängt. Und ziemlich sinnlos, das hat mir Feledrion sehr klar gemacht." Zuletzt wird Atreo wieder sehr leise, als rede er zu sich selbst. Grimmig starrt er auf die Tischplatte, wie auf eine gute Freundin, die ihn schwer enttäuscht hat.
Riftar nickt verständnisvoll. Sein Ohrring und die Glasperlen um seinen Hals fangen glitzernd das Licht der Morgensonne ein und verwandeln es in ein Feuerwerk aus Sternen und Tränen.
"Nun ja... aber ich würde sagen, es kommt immer darauf an. Wenn man zum Beispiel die Träume - die nächtlichen wie die wachen - als eine ganz eigene Wirklichkeit betrachtet, dann haben sie sozusagen gar nichts mit den Realitäten zu tun - und dann kann man sich an ihnen freuen oder auch nicht, aber ihnen vorwerfen, das sie nicht in Erfüllung gehen, das kann man dann nicht."
Gedankenverloren reibt er sich die lange Nase. "Mit Wünschen ist es etwas ganz anderes. Ich bin jemand, der fast nie die Hoffnung aufgibt", er zuckt die Achseln, "deshalb hat man mich schon oft für verrückt gehalten. Vielleicht ist etwas dran", setzt er nachdenklich hinzu. "Vielleicht haben sich meine Wünsche auch schon längst in Träume verwandelt, die gar nichts mehr mit den realistischen Gegebenheiten zu tun haben..."
Riftar seufzt. Dann plötzlich fixieren seine hellen Augen Atreo wieder mit jener staunenden Intensität, als sähe er den Freund zum ersten Mal, er nimmt dessen Stimmung in sich auf und betrachtet ratlos wie ein Kind die Tischplatte, auf welche Atreo starrt.
Behutsam, mit mühsam gebremster Neugier fragt er: "Und wer ist Feledrion?"
"Vielleicht reden wir von unterschiedlichen Arten von Träumen", lässt Atreo zwischendurch einfallen. Er jedenfalls hat letztlich wenig davon, sich mit imaginären Frauen abzugeben.
Bei Nennung des Namens Feledrion jedoch hellt sich sein Blick schlagartig auf. Nur kurz wird dies durch Verwunderung unterbrochen, als frage er sich, wie Riftar darauf komme. "Ein Elf - MEIN Elf, könnte man fast sagen, müsste ich ihn nicht mit so vielen teilen." Ja, nun strahlt Atreo über das gesamte Gesicht - wenn auch in einer sanft und leise zu nennenden Weise, verliert sich doch sein Blick im Nichts eines Traumbildes - wahrlich, er träumt!
Wieder legt Riftar den Kopf schief und betrachtet seinen Freund mit allen Anzeichen höchster Faszination. Ein weiteres Blütengebilde aus Käsescheiben liegt wie vergessen auf seiner ausgestreckten Handfläche.
"Ein Freund von dir?" Langsam, ohne den Blick von Atreo abzuwenden, hebt er die Hand vom Tisch. Der Ausdruck verträumter Freude auf dem Gesicht seines Freundes spiegelt sich als warmes Funkeln in seinen Augen. "Du scheinst ihn sehr gern zu haben."
Auf Riftars bis auf Augenhöhe emporgehobener Handfläche liegt tiefrot leuchtend eine frisch erblühte, taufeuchte Rosenblüte.
An dieser bleibt schließlich Atreos Blick hängen. Er kann sich kaum erklären, woher sie kommen mag. Ja, selbst die Frage danach braucht ihre Zeit, ihm überhaupt bewusst zu werden.
Die andere Frage - jene Riftars nämlich - steht dazu in deutlicher Konkurrenz, dass auch sie hinreichend Gelegenheit findet, in aller Ruhe in seinem Kopf nachzuhallen.
Er blinzelt, die Augen weiter auf die Blüte gerichtet. "Ja, er... hm... hat mir..." Das klingt alles saublöd, was er sagen könnte! Und dann diese Blume! Taschenspielertrick oder Zauberei? Muss man sich jetzt schon beim Frühstück auf die Finger des Gesprächspartners konzentrieren!?
Den Blick knapp über die Kronenblätter der Rosenblüte hinweg auf Atreos Gesicht gerichtet, beobachtet Riftar den Freund aufmerksam, der leicht irritiert wirkt. Als Atreos Gestammel im Nichts verläuft, zieht er nur leicht fragend die Augenbrauen hoch, wie um der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass sich die Antwort doch noch fortsetzen möge.
Sich unvermutet beobachtet fühlend, schaut Atreo seinen Gast mit einem Male beinahe vorwurfsvoll an. "Ein sehr alter Freund halt", brummelt er. "Was treibst du da?"
Die hellgrünen Augen hinter den Augengläsern blicken unschuldig wie die eines kleinen Kindes. "Ich? Gar nichts... Lieber Freund" - und die Bewegung, mit der Riftar seinem Gegenüber die dunkel leuchtende Blüte entgegenstreckt, würde mit ihrer Grandezza einem almadanischen Granden alle Ehre machen - "darf ich dir als Zeichen meiner aufrichtigen Freundschaft dieses bescheidene Blümlein verehren?
Lass es dir schmecken", setzt er in weit prosaischerem Tonfall hinzu.
Damit hat er sich verraten! Atreos Lippen breiten sich zu einem siegessicheren Feixen aus. Nur zu gut erinnert er sich noch an gewisse Zitate seines Gegenübers: `Horriphobus... Blitz dich find... Horriphobus, verdammt!' Wenn Riftar auch wenig glückvoll bei seinen Bemühungen war, dass er über arcane Kraft verfügt, darf wohl als gesichert gelten. Sein belesenes Auftreten spricht für einen Magus - allerdings wohl einen, der nicht lange an einer Akademie gewesen sein kann. Was die Blume anbelangt, scheidet der Taschenspielertrick also sicherlich aus. Und da Illusionen nun einmal leichter zu bewerkstelligen sind als echte Verwandlungen, und aufgrund Riftars Aufforderung handelt es sich hier ganz gewiss noch immer um eine Käseblüte.
Ohne noch einen weiteren Moment zu zögern, schnappt er sich das Objekt aus Riftars Hand und schwingt es unverzüglich in den Mund, um es zu zerkauen.
Auch auf Riftars Gesicht breitet sich ein vergnügtes Grinsen aus - auch wenn sich in seiner poetischen Seele leise der Gedanke regt, dass sein Freund die Schönheit dieses eigens zu seiner Freude ersonnenen Kunstwerks ruhig vor dem Verspeisen etwas hätte würdigen können.
"Daf habe if mir gedaft", erklärt Atreo, den Blumenkäse mehr lutschend als kauend. Er ist so stolz auf sich, dass er längst vergessen hat, worüber sie gerade sprachen. Dafür bemerkt er, wie sich mal wieder eines seiner langen schwarzen Haare mit den grauen Strähnen in seinen Mund geschlichen hat. Mit einem Fingerstreichen über den Mundwinkel zieht er es wieder heraus.
"Was hast du dir gedacht?" fragt Riftar verwundert, während Atreo sein Kunstwerk so gierig verschnurpst, dass er gar noch die eigene Haarpracht mit anknabbert.
Als erste Antwort kommt ein um so verbreitertes Schmunzeln. "Dass du mich mit einer Illusion necken möchtest."
Er reibt sich die blanke Schulter. Möglicherweise sollte man sich mal langsam richtig anziehen. Doch kalt ist ihm trotz Engasalischer Breiten nicht, also hat es keine Eile.
Riftars Brauen schnellen in die Höhe, die weit aufgerissenen hellen Augen vermitteln ein höchst anrührendes Bild gekränkter Unschuld. "Dich necken??? Aber, lieber Freund, so etwas würde mir nicht im Traume einfallen! Ich wollte dir, mein überaus zuvorkommender Gastgeber, eine kleine Freude bereiten - übrigens hat mich das Gesicht inspiriert, das du gemacht hast, als du deinen Freund - Federion? - erwähntest. Er muss eine faszinierende Persönlichkeit sein."
Nun, da er die Unterstellung unlauterer Motive mit derart heiliger Entrüstung entkräftet hat, hat bereits wieder die Neugier überhandgenommen.
Allzu deutlich lässt Atreos Mimenspiel zwischen Belustigung und Ungläubigkeit erkennen, wie wenig er Riftar diese Erklärung abnimmt. Allzu überzeugt ist er von der eigenen.
Doch dieses Thema ist gänzlich vergessen, als Riftar schon wieder auf den Elfen zu sprechen kommt. "Ja..." beginnt er zögerlich. Irgendwie hat er Probleme, diese Freundschaft zu beschreiben. Da fällt ihm ein interessantes Detail an Riftars Worten auf: "Schon komisch... `Faszinierend' ist eines seiner Lieblingswörter. Ein besseres Kompliment könntest du ihm vermutlich kaum machen."
Sinnierend lehnt sich der Einhändige zurück. "Tja, das war schon recht eigenartig, wie wir uns in Havena kennenlernten. Ich hatte gleich den Eindruck, dass er anders sei als die Elfen, die ich bereits aus der Stadt kannte. Aber man muss ihn wohl erlebt haben, um das nachvollziehen zu können."
Mit leicht schiefgelegtem Kopf verfolgt der Almadaner über den Rand seiner Brille hinweg das Mienenspiel auf Atreos Gesicht. Seine Finger spielen mit dem Messer; schließlich langt er nach dem Brot, ohne den Blick von Atreo zu wenden.
"Ich habe noch nicht viel mit Elfen zu tun gehabt", meint er nachdenklich. "Also würde mich bei einem Elfen nichts überraschen. Ich würde deinen Freund gerne kennenlernen", setzt er vergnügt hinzu. "Es würde sicher meinen beschränkten Horizont erweitern."
Feixend erwidert Atreo: "Überraschung mag viele Ursachen haben...
Aber gut, ein Treffen lässt sich bestimmt einmal arrangieren. Es ist zwar meist nicht leicht zu sagen, wo sich Feledrion wann aufhält, doch spätestens, wenn ich einem aus seiner Sippe über den Weg stolpere, habe ich ihn so gut wie erreicht. Und das geschieht doch erstaunlich häufig. Wenn du es allerdings eilig hast... hm..." Grüblerisch blickt der Einhändige seinem Gast in die neugierigen Augen.
Riftar hält mit Brotabschneiden inne. "Eilig?" fragt er erstaunt. "Aber nein, warum sollte ich es eilig haben? Ich bin doch gerade erst hier angekommen! Ich meinte nur, dass ich gerne denjenigen kennenlernen würde, der auf dich so viel Eindruck macht. Naja, und ich würde halt gerne einmal einem Elfen gewisse... fachliche Fragen stellen."
Völlig übergangslos setzt er hinzu: "Sind denn hier in diesen Gegenden oft Elfen unterwegs? Ist noch Wurst da?"
"Ahja, fachlich", brummelt Atreo unschlüssig. Dann muss er so laut lachen, dass man schlecht sicher sein kann, ob er die letzte Frage noch vernommen hat. "Du meinst, außer denen, die hier in Engasal wohnen?"
Er lacht noch ein wenig weiter, bevor er wieder ruhiger erklärt: "Von Feledrions Sippe kommt immer mal einer hier vorbei, von jenem einen abgesehen, der die Salamandersteine vielleicht noch nie verlassen hat." Während er noch spricht und sich dabei erhebt, streicht sein Blick beiläufig über den Tisch.
"Was gibt`s denn da zu lachen?" erkundigt sich Riftar sichtlich indigniert. "Immerhin gelten die Elfen als ausgesprochene Koryphäen auf bestimmten Gebieten. Und zumindest da, wo ich her- und herumkomme, laufen sie jedenfalls nicht in hellen Scharen herum. Aber es scheint, als ob das in diesem deinem von Travia und Hesinde offensichtlich reich gesegneten Hause anders sein mag."
Riftar hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Offensichtlich wartet er auf eine Erklärung für Atreos Heiterkeitsausbruch.
Jener tut bereits einen ersten Schritt zur Vorratskammer. "Ja, es ist anders", bestätigt er ruhig, als erkläre man einem Kinde die Selbstverständlichkeit, dass Stein nun einmal härter ist als Holz. "Aber ich lache, weil du gestern Abend beim Ankommen scheinbar nicht bemerkt hast, dass in Engasal auch Elfen, Zwerge und Goblins wohnen..."
Damit hat er das Türchen zum Lager erreicht und geöffnet und streckt nun seinen kräftigen Oberkörper hindurch.
"SO gründlich bin ich ja nun auch noch nicht herumgekommen in Engasal. Aber das wird sich hoffentlich bald ändern." Interressiert verfolgt Riftar Atreos Aktivitäten in der Speisekammer. "Elfen, Zwerge und Goblins? Viele? Wie kommt ihr denn mit denen aus? Den Goblins, meine ich. Gehen die auch in deinem Hause ein und aus?" Der Almadaner scheint diese Vorstellung höchst interessant zu finden. Seine Augen funkeln hinter den Brillengläsern.
"Weniger", erschallt es gedämpft aus der Kammer, dann kommt Atreo auch schon wieder daraus zum Vorschein. In der Hand hält er eine unangefangene Dauerwurst. Wenn man so häufig nicht zuhause weilt, ist haltbare Nahrung die beste Lösung.
"Die meisten sind Gastarbeiter, deren Anzahl sich nach der Erntezeit richtet... Wie war die Frage?" Irgendwie stellt Riftar allzu häufig zu viele Fragen auf einmal. Welcher Einhändige soll sich das alles merken! Beiläufig hält Atreo dem Gast die Wurst hin.
"Die letzte Frage war", erklärt Riftar in sanftem Ton, "ob du in deinem traviagesegneten Heim auch Goblins zu beherbergen pflegst. Es würde mich einfach interessieren, wie man... hm, `privat' mit ihnen auskommt. Sei aufs herzlichste bedankt - ich hoffe, ich beraube dich jetzt nicht deiner letzten Vorräte..." Erfreut greift er nach der angebotenen Wurst.
"Nicht, dass ich Vorurteile hätte", nimmt er den vorigen Faden wieder auf, "nur meine bisherigen Begegnungen mit Angehörigen dieses liebenswerten Völkchens hatten eher einen unerfreulich geschäftlichen Charakter."
Atreo wird das Gefühl nicht los, Riftar wiederhole nur jenen Teil seines Fragegewitters, welchen er ohnehin beantwortet hat. Doch schon stürmen neue heran.
Das mit den Vorräten übergeht er geflissentlich. In Engasal hat man auch spät abends keine Probleme, einzukaufen.
"Nun, mit den Gastarbeitern habe ich natürlich kaum Kontakt. Der Einzige, mit dem ich schon mal mehr als einen Satz gewechselt habe, dürfte dieser kleine General sein... Wie heißt der gleich...? Ich bin einfach zu selten im Lande..."
"Ein General!? Ich wusste gar nicht, dass dieses Volk über ein organisiertes Kriegswesen verfügt." Leidenschaftlich rückt Riftar der Wurst mit dem Messer zu Leibe. "Oder steht dieser General in den Diensten des Herzogtums?"
"Wie?" Atreo überlegt immer noch angestrengt. "Ähm, ja, letzteres. Aber ich glaube, er ist doch nur Major... Wie hieß er gleich? Ich bin sicher, es war leicht zu merken..." Grübelnd tut er ein paar Schritte durch die kleine Küche.
Major, aha. Angestrengt versucht Riftar, sich einen dekorierten Goblin in Rüstung vorzustellen. Die hellen Augen folgen dabei Atreos Weg durch die Küche. Mag der einhändige Glücksritter auch seufzen, er sei zu alt - mag er sich auch vor Langeweile fürchten - draußen, in `freier Wildbahn' wirkte er irgendwie richtiger am Platz als in diesem kleinen Haus.
Nachdenklich nimmt Riftar wieder das Messer zur Hand. Nachdem er fünf, sechs dünne Scheiben von der Wurst abgeraspelt hat, spießt er die erste davon auf die Spitze des Messers.
"Atreo?"
Murmelnd setzt Atreo seinen Rundweg fort: "Go... Go..."
Angesprochen, kommt er abrupt zum Stillstand. "Ja?"
Da Atreo sich so offensichtlich bemüht, sich an den Namen jenes goblinoiden Militärs zu erinnern, tut es Riftar schon fast leid, ihn mit einem seiner üblichen Gedankensprünge aus dem Konzept zu bringen. Die neue Frage, die ihm im Kopf herumgeistert, kann er auch später noch stellen - inzwischen könnte man ja etwas Wurst essen.
"Ach... nichts... Gorfo? Gondrian? Gorfangslieb vielleicht?" schlägt er aufmunternd vor.
Dem Einhändigen entfährt ein belustigter Laut, der allerdings fast wie ein Schneuzen klingt. "Neinnein! Es war ganz etwas Leichtes. So ähnlich wie Goblin, nur kürzer... Gobli... Gobi, das war es! Brigademajor Gobi! Wirklich zu blöd! Aber er sieht auch genauso albern aus mit seinen Medaillen!" Lachend schüttelt Atreo den Kopf.
"Und dieser Brigademajor... Gobi -phrrr!-, der lebt hier, ja? Und er genießt den Vorzug deiner näheren Bekanntschaft, wenn ich dich recht verstanden habe?"
"Er lebt im Schloss, soviel ich weiß." Da er ja nun auf den Namen gekommen ist, findet Atreo auch wieder die Ruhe sich zu setzen. "Wir kennen uns vom Sehen, aber nicht näher."
Er schaut auf den Tisch, ob er noch Appetit auf etwas hat, wiegt den Kopf und schneidet sich schließlich doch noch ein größeres Stück Käse ab.
Wurst und Käse am Morgen machen durstig. Verstohlen späht Riftar in der Küche herum, ob sich irgend etwas Flüssiges aus seinem Versteck gewagt haben sollte. Aber zunächst interessiert ihn noch etwas anderes: "Wofür hat denn der Brigademajor Gobi all seine Medaillen bekommen?"
Irgendetwas ist an diesem Frühstück anders als sonst, aber Atreo bekommt ja kein Päuschen, darüber nachzudenken.
Nach einem trockenen Räuspern erwidert er: "Da musst du ihn oder den Herzog fragen! Vielleicht hat er sie ja gefunden!" Sein Auflachen erstickt in einem heiseren Husten.
Aha, da kann ja auch nichts Gutes bei rauskommen, wenn man das ganze Frühstück trocken hinunterwürgt. Insofern deutet Atreos Hustenanfall genau das an, was Riftar eben schon zur Sprache bringen wollte.
Mit einem Ausdruck tiefen Mitgefühls betrachtet der Almadaner den röchelnden Freund. "Du solltest schnell etwas trinken - das hilft sofort", bemerkt er treuherzig.
Nach einem Räuspern erwidert Atreo: "Dachte ich doch, dass ich etwas vergessen habe! Entschuldige!"
Er schaut wiederum in der Kammer nach, wo er eine Milchkanne birgt. Als er sie jedoch öffnet und hineinschnuppert, schlägt ihn der Geruch fast von den Beinen. Kein Wunder, dass die nicht mehr gut ist! Wie lange ist er diesmal unterwegs gewesen? Wenn er gestern Abend nicht noch mehr oder weniger zufällig an Brot und Belag gedacht hätte, wäre das ein wahrlich karges Frühstück geworden!
Auf dem Wege zur Hintertür erklärt er: "Milch ist -ähm- alle... Magst du Wein oder Wasser?"
"Wein UND Wasser!" schallt es prompt zurück. Milch muss es ja nun wirklich nicht sein.
"Äh... was hast du denn für einen Wein da?" kommt dann eine vorsichtige Nachfrage. Und hilfreich: "Soll ich Wasser vom Brunnen holen?"
Nachdem er die Tür geöffnet hat, kippt Atreo die saure Milch hinaus. "Ich habe ein kleines Sortiment", erklärt er beim Sichwiederaufrichten. "Was soll es denn sein? Rot- oder Weißwein?"
Das klingt verlockend - ein kleines Sortiment. Jaja, Atreo ist ihm auf Anhieb sympathisch gewesen, und Riftar kann sich wieder einmal glücklich schätzen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben.
"Hmmm... wie wär's zum Frühstück mit einem trockenen Weißwein?"
Siedendheiß fällt dem Almadaner ein, was für grausige Gerüchte er über den berühmten Engasaler Essig gehört hat. Wenn das mal kein Fehler war! Vorsichtig, in beiläufigem Tonfall fragt er nach: "Besteht dein Sortiment aus hiesigen Weinen?"
"Unfug! Wofür hältst du mich!" Atreos ohnehin gekünstelte Entrüstung verbreitert sich zu einem Grinsen. "Wofür hältst du die Engasaler! Hier trinkt man auswärtige Weine!"
Er hält Riftar die leere Kanne hin. "Liebfelder, darpatischen, almadanisch oder aranisch...?"
Auswärtige Weine, jaja, das hat Stil. Oder ist es eher eine Selbstschutzmaßnahme?
Bei der Aufzählung der zur Auswahl stehenden Möglichkeiten sind Riftars Ohren buchstäblich ein bis zwei Zoll länger geworden. "Al-ma-da-ner-Wein!? Mein lieber Freund, weißt du, wie glücklich du mich Armen so fern der sonnigen Heimat damit machen könntest?"
Atreo freut sich sichtlich, wie Riftar vor Vorfreude beinahe platzt. "Gut, ich schau mal, was ich alles da habe."
Da Riftar die Milchkanne nicht gleich entgegennimmt, stellt der Einhändige einfach auf den Tisch. Dann begibt er sich zu einer Luke im Fußboden, die er öffnet.
Jetzt könnte Riftar natürlich sein Angebot in die Tat umsetzen und mit der Kanne zum Brunnen gehen. Allein, um nichts in der Welt würde er in diesem Augenblick die Küche verlassen wollen, da sein Gastgeber eben daran geht, die Geheimnisse seines Kellers zu lüften!
Bevor er in der Lunke verschwindet, wirft Atreo noch einen Blick auf seinen Gast. Statt Hand an die Kanne zu legen, platzt jener ganz offensichtlich vor Neugier, was ja nun schon lange nicht mehr überraschen kann.
"Ja, dann komm halt mit!" bietet der Einhändige lachend an und taucht ins Dunkel.
Wer würde sich das zweimal sagen lassen? Riftar jedenfalls nicht! Statt dessen schnellt er geradezu von seinem Stuhl hoch wie der sprichwörtliche Bolzen von der Sehne eines dieser modernen Mordwerkzeuge, um seinem Gastgeber zu folgen. Wer weiß schon, welche Wunder der nördlichen Welt dieser in seinen unterirdischen Gewölben aufbewahren mag?
"Erwarte nur nicht zuviel!" kommt es gedämpft aus der Luke.
Und als Riftar herabgestiegen kommt, bietet sich ihm ein äußerst kleiner Keller zum Anblick. Gerade zwei mal zwei Schritt mag er messen. An den Wänden stehen Regale, hier und da einigermaßen spärlich mit schrägliegenden Flaschen gefüllt, welche insgesamt aber dennoch eine halbwegs große Auswahl bieten. Etwa dreißig bis vierzig dieser Gefäße mag es hier geben.
Der Einhändige begutachtet soeben ein Grüppchen von ihnen, indem er sie nacheinander anhebt und auf die Etiketten schaut, sofern welche vorhanden sind.
Keine ausgedehnten Kellergewölbe, keine labyrinthischen Gänge voll unerforschter Geheimnisse... Nun ja, so wirklich war das ja auch nicht zu erwarten, nachdem der Einhändige schon ohne ein Licht dort hinuntergestiegen ist. Aber immerhin, der Anblick, der sich Riftar bietet, hat in jedem Fall etwas Erfreuliches: So klein ist Atreos `kleines Sortiment' nun auch wieder nicht. Hocherfreut beginnt Riftar, die verschiedenen Flaschen in Augenschein zu nehmen.
Schon oberflächliche Blicke zeugen von lediglich allgemeiner Grobsortierung. Hier die Schnäpse, allen voran das berüchtigte Premer Feuer, dort die Roten, drüben die Weißen Weine, teils nach Regionen zusammengestellt. Und doch wirkt alles etwas unordentlich. Dieser Eindruck mag zum einen aus den großen Lücken erwachsen, zum anderen aus Dingen, die eigentlich überhaupt nicht hierher gehören wie der Al'Anfaner Oreal neben dem trockenen Sikramer, ein gefalteter Zettel beim Trollzacker Obstgeist oder die heruntergebrannten Kerzenstummel hier und dort.
"Hier steht es, dein heißgeliebtes Rahjablut!" reißt Atreo den Gast aus seiner wohl wieder einmal allem geltenden Traumweltneugier und verweist mit einer Geste auf eine Handvoll unterschiedlicher Flaschen aus dessen Heimat.
Das Licht, das durch die Kellerluke hereinfällt, reicht aus, um einen Anblick zu beleuchten, der dem Durstigen das Herz höher schlagen lässt. Fast könnte man an eine weitere Lichtquelle glauben, so sehr leuchten die hellgrünen Augen des Almadaners, als dieser sich dem bezeichneten Regal zuwendet.
"HmmmduscheinstdichjaderGunstallermöglichenGötterzuerfreuenhmmm... Beim Morgensonnenglanz auf den Türmen von Taladur... was haben wir denn hier?" Vorsichtig zieht Riftar eine Flasche aus dem Regal und wischt mit dem schwarzen Samtärmel zärtlich den Staub ab.
Schmunzelnd beobachtet Atreo den seligen Almadaner bei seiner Entdeckungsreise. Allerdings tut er dies tatsächlich selbst ein wenig neugierig. Er hat längst den Überblick verloren, was hier unten lagert und wo er es im einzelnen herbekam.
Es ist eine Flasche aus hellem Glas, augenscheinlich gefüllt mit einer Flüssigkeit, die in etwa die Farbe von hellem Bernstein hat. Die verschlungene Schrift auf dem Etikett wäre bei diesem Licht wohl nicht so leicht zu entziffern, aber ein zweiter Blick bestätigt Riftars Vermutung. Halb dreht er sich zu dem Einhändigen um, die Flasche im einfallenden Licht verspielt hin- und herbewegend, so dass goldgelbe Lichtreflexe auf die Kellerwände fallen.
"Atreo, du reich beschenkter Günstling der schönsten aller Göttinnen- würdest du mir verraten, wie du an dieses Kleinod gekommen bist? Hast du es aus dem Hort eines Drachen entwendet, als fürstliche Belohnung für die Errettung einer wunderschönen Prinzessin erhalten, oder hast du gar um seinetwillen einen unheiligen Pakt mit Ichmagmirgarnichtvorstellenwem geschlossen und deine Seele verkauft?" Riftars Tonfall lässt vermuten, das ihn die letzte der angebotenen Möglichkeiten wohl eher nicht die wahrscheinlichste dünkt.
Langsam könnte sich jemandem der leise Verdacht aufdrängen, Riftar neige bisweilen zu kleinen Übertreibungen - nicht so Atreo, der bisweilen zu großen neigt.
Beim Thema unheilige Pakte fällt ihm viel und wenig zugleich ein. Aber an diese Flasche kann er sich momentan nicht recht erinnern. "Man findet viel auf den Märkten Engasals, und ich bin ja auch viel unterwegs..." Dabei schaut er zu einem halbherzigen Versuch des Erkennens auf die Flasche. "Nehmen wir also diesen?"
Mit weit aufgerissenen Augen starrt Riftar den Einhändigen an, als habe dieser ihm gerade im Plauderton eine Einladung zur Teestunde beim Götterfürsten höchstpersönlich übermittelt.
"Bitte!? ...zum FRÜHSTÜCK!?"
Ein Grinsen breitet sich mehr und mehr über Atreos Gesicht, bis es fast von Ohr zu Ohr reicht. "Gutgut, wenn du so lange warten kannst, nehmen wir den heute Abend. Aber was darf es jetzt sein, junger Freund?"
Abwartend stemmt er den Stumpf in die Hüfte, während er sich mit der Rechten am Regal abstützt.
Das Glänzen der Flasche im durch die Luke einfallenden Licht spiegelt sich in den Augen des Almadaners - fast könnte man meinen, es stünden Tränen darin, so glitzern sie.
"Du würdest diesen Wein tatsächlich mit mir teilen wollen? ... Einen Dunkeldorn-Avesflügler, der ungefähr spätestens aus Kaiser Retos Zeiten stammt?"
Riftar wirkt ehrlich erschüttert. "Das ist... Lieber Freund, das ist ein Anlass für ein veritables Fest!" Verwirrt blinzelt er den Einhändigen an, der recht ungerührt wirkt, gerade so, als ständen solche Weine bei ihm täglich auf dem Tische.
Jener aber steht weiter in seiner lässigen Haltung. Nur sein Gesichtsausdruck hat sich ein klein wenig verändert. Ehrliche Freude ist in seinem Blick zu erkennen. Freude, jemanden beglückt zu haben - und das noch dazu, wie er meint, ohne großes Dazutun. Er kann sich nicht mehr recht erinnern, aus welcher vergammelten Schatztruhe er diese Flasche wohl einst herausgefischt haben mag, oder ob er sie möglicherweise bei einem Wagenrennen gewann. Es ist ihm nicht wichtig. Wein ist dazu da, genossen zu werden.
"Ach, weißt du, allein trinken macht ja viel weniger Spaß. Und du wirst deine Hälfte vermutlich sehr viel inniger zu dir führen, als ich es werde. Ich saufe zuviel; Feledrion hat schon recht..."
Das Haupt des Einhandigen hat sich gesenkt, der Blick ist nun zu Boden gerichtet. Doch schon im nächsten Moment schaut Atreo wieder fröhlich auf. "Du sollst dein Fest haben!"
Verschiedene Ausdrücke huschen über die feinen Züge des Almadaners wie Wölkchen über einen Perainehimmel. Dankbarkeit ob der Tatsache, dass Atreos einsamer Durst eben diese Flasche verschonte, ein verständnisvolles `Das-kenn-ich', wiederentfachtes Interesse bei der wiederholten Erwähnung dieses Feledrion - und schließlich reine Freude.
"Oja, Freund, lass uns feiern... mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, wie wenig bei verschiedenen Gelegenheiten in letzter Zeit daran gefehlt hat, dass wir überhaupt nie wieder hätten feiern können! Und wenn man dann überlegt, wie schauderhaft viele Gelegenheiten zum Feiern man in seinem jugendlichen Übermut womöglich ausgelassen hat... Nein!!!" beschließt er seine Rede im Ton wildester Entschlossenheit: "Das soll nie wieder vorkommen!"
Erst hört Atreo seinem Gast nur schmunzelnd zu und fühlt sich angeregt, eine lässig abweisende Gestik zu vollziehen. Er ist es gewohnt, am Rande des Todes durch die Welt zu rasen. Vielleicht braucht er es sogar. Aber Furcht? Nicht erst seit dem Drachenblutbad bekommt er das Gefühl schwer bei echten Gefahren. Aber das hat er ja alles schon erzählt, und er will seinen Freund nicht unterbrechen, der mehr und mehr in Hochform zu geraten scheint.
Am Schlusse muss Atreo lauthals loslachen und bekommt sich erst einmal gar nicht wieder ein. Dieser Verrückte ist ganz nach seinem Geschmack!
Riftar stutzt, als Atreo laut loslacht. Seine Augenbrauen zucken erst in die Höhe, um dann leicht indigniert aufeinander zuzukriechen.
"Ja doch! Ich meine das ganz ernst!" versetzt er mit Nachdruck in der Stimme, wobei er den Einhändigen durchbohrend anblickt. "Wer Gelegenheiten auslässt, versündigt sich womöglich nicht nur an einem Gott, sondern am Ende noch am ganzen Pantheon, was die Sache dann noch viel unangenehmer machen würde, als sie ohnehin schon wäre..."
Ein neuer Gedanke scheint sich in des Almadaners labyrinthischen Gehirnwindungen verfangen zu haben, denn der Redefluss versiegt und der Blick der hellen Augen scheint in die Ferne zu schweifen.
So recht Atreo seinem Freunde auch geben würde, bringt ihn dessen letzte Bemerkung doch nur noch mehr zum Lachen. Selbst das schleichende Bewusstsein, dass die Götter diesen Unernst teilweise übelnehmen könnten, schafft es nicht, ihn zu beruhigen. Eher schon der eigenartige Ausdruck in Riftars Antlitz, der Atreos Neugier weckt.
Um Luft ringend, wird Atreo leiser, schluckt ein paar Male und bemüht sich, seine momentane Respektlosigkeit vor den Göttern allgemein und seinem Gast im Besonderen wieder unter Kontrolle zu bringen. "Entschuldige", japst er.
Der irritierte Ausdruck ist noch nicht völlig aus Riftars Zügen gewichen, aber seine Gedanken scheinen schon wieder weitergewandert zu sein. Erst, als Atreos Gelächter in ein verständliches Wort mündet, kehrt seine Aufmerksamkeit zu seinem Gastgeber zurück.
"Wie? Entschuldige... was?" murmelt er aufgeschreckt. "Ach so - jaja, natürlich... Sag mal, Atreo", setzt er übergangslos hinzu, "wusstest du, dass die Bewegungen und Konstellationen der Gestirne auch Einfluss auf das Gedeihen der Trauben und die Wirkung des Weines haben?"
Wie abwesend wandert sein Blick weiter über die Regale, bis er an einem hellen Fleck hängenbleibt. Einen kurzen Moment lang fixieren die hellen Augen den zusammengefalteten Zettel, bevor sie wieder wie nach innen gerichtet scheinen.
Dem Einhändigen bleibt geradezu die Luft weg, als Riftar ihn so unvermittelt mit einem neuen Thema konfrontiert. "Hmwie, Gestirne? Hm..." Kurz verfolgt er Riftars schweifenden Blick, was ihm jedoch selbst nicht recht bewusst wird. "Also, ich habe da wenig Ahnung, muss ich gestehen. Ich baue ihn nicht an, sondern trinke ihn. Aber es hängt doch wohl mehr vom Wetter ab. Und vom Boden, soweit ich weiß." Ein seltsamer Anflug eines Lächelns umspielt seine Mundwinkel, da er sich an den harten nördlichen Boden um Engasal erinnert fühlt.
"Doch, doch!", bekräftigt Riftar energisch, die Augen voll von heiligem Ernst. "Es sind die Kräfte der Sterne, ihre Beziehungen zueinander, ob sie feindlich zueinander stehen, oder von Harmonie erfüllt sind... Kraftfelder und Sphärenmusik und so..."
Der Almadaner hat begonnen, seine Ausführungen mit weitausholenden Gesten zu untermalen - allein, bevor er sich restlos in Begeisterung geredet hat, erinnert er sich der Flasche in seiner Hand und der Gefahren, denen er das kostbare Stück mit seinem Gefuchtel aussetzt. Erschreckt drückt er den Schatz ans Herz und fährt friedlicher fort: "Natürlich hast du recht, das Wetter und der Boden sind auch wichtig, sehr wichtig! Natürlich, denn schließlich wächst der allerbeste Wein ja auch in Almada, wo die freundlichste Praiosscheibe auf den travia- und prainegesegnetsten Boden scheint und der Regen ein freundliches Geschenk Efferds an das Schönste aller Länder ist!"
`Sphärenklänge!' Auch dafür wäre wohl eher Feledrion zuständig, doch hat der nun wirklich rein gar nichts mit Wein am nichtvorhandenen Hute.
"Jaja", brummt Atreo schließlich väterlich schmunzelnd wie zu einem harmlosen Irrsinnigen. Zweifellos ist Almada ein sehr angenehmer Landstrich, aber letztendlich gibt es derer viele, und die angenehmen sind nicht unbedingt immer die interessantesten. "Halt deinen Schatz gut fest und nimm ihn ruhig gleich mit hinauf... dass wir ihn nicht vergessen..." Atreos Mund breitet sich während des Sprechens zusehends, bis er sich am Ende seiner Worte eines lauthalsen Lachens nicht mehr erwehren kann.
Eilig beruhigt er sich wieder - zum einen, um seinen Freund nicht doch noch während des nur unterbrochenen Frühstückes zu kränken, zum anderen, um hier unten endlich zu Potte oder besser zu Flasche zu kommen. "Entscheide dich nur noch schnell, was du jetzt zum Frühstück möchtest", bittet er heiser, denn um des Trinkens Willen ist man herabgestiegen, nicht zum Zwecke almadanischer Weinstudien.
Jetzt bricht der Mann schon wieder in schallendes Gelächter aus! Als Gaukler ist Riftar zwar durchaus an derartige Beifallskundgebungen seines Publikums gewöhnt; doch hier, in dieser Gesellschaft und dieser Umgebung hatte er eigentlich anderes im Sinn gehabt, als seinen Gastgeber mit windigen Scherzen zu unterhalten. Andererseits ist ein herzliches Lachen immer ein Geschenk der Fröhlichen Schwester, wie Rueda gesagt hätte. Rahja, es scheint so lange her zu sein, und liegt doch nur wenige Wochen zurück...
Noch ehe er sich entschieden hat, ob er mitlachen oder wieder einmal eine indignierte Miene zur Schau stellen soll, schießen dem Almadaner Tränen in die Augen. Auf dem Absatz wirbelt er herum und wendet sich noch einmal dem Flaschenregal zu, nimmt die Augengläser ab, klemmt den Bügel zwischen die Zähne und beugt sich noch tiefer über die Flaschen - eigentlich unnötig; denn er hat längst erspäht, wonach er sucht.
Nach einigen Augenblicken heftigen Blinzelns richtet er sich wieder auf, eine weitere Flasche in der Linken. "Ein Aquenauer Südhang", stößt er am Brillenbügel vorbei zwischen den Zähnen hervor.
Mit einem verhaltenen Räuspern, welches für Betretenheit spricht, beendet Atreo seine Belustigungsbekundung. "Ähm, eine gute Wahl", meint er beiläufig, dass man vermuten muss, dies hätte er zu allem gesagt. Auch entsteht der Eindruck, er wolle noch etwas anfügen, und tatsächlich ringt er sich nach kurzem Zögern dazu durch: "Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt..." Dabei legt er vorsichtig seine Hand auf Riftars Schulter.
Der Kopf des Almadaners fährt herum, dass die Locken fliegen.
"Bldt... Beleidigt?" fragt er im Ton ehrlichster Überraschung, nachdem er mit zwei Fingern, die beim Flaschenhalten erübrigt werden können, den Brillenbügel hinter den Zähnen losgehakt hat.
"Aber nein, Freund, womit denn? Halt das mal!" Mit diesen Worten drückt er Atreo die zuletzt aus dem Regal gefischte Flasche in die Hand, um mit seiner freigewordenen die Augengläser wieder auf die Nase zu balancieren und sich dann mit der für ihn typischen Geste mit gespreizten Fingern die schwarze Mähne aus dem Gesicht zu streichen.
Kaum ist sein Blick wieder klar, heftet er sich auf den Gegenstand, der ihn schon die ganze Zeit über interessiert. "Dir hat übrigens jemand eine geheime Botschaft geschickt. Aber wie ist er in deinen Weinkeller hereingekommen?" Mit dem Kinn deutet Riftar auf den zusammengefalteten Zettel zwischen den Flaschen.
Verdutzt folgt Atreo den Kinnwink, die Flasche in der Hand schon wieder vergessend.
"Ah, das!" Er lacht leise. "Ach, das ist nur... hm..." Kurz überlegt er, ob er davon erzählen soll, doch dann schimpft er sich selbst im Geiste ob seines vollkommen unangebrachten Misstrauens. "Sagt dir der Name Brabacciano etwas...?"
Beiläufig will er das vergilbte alte Papierstück an sich nehmen, doch er hat ja nicht mal einen Haken am Stumpf, mit dem er es aufspießen könnte - und das würde er mit diesem speziellen Dokument ohnehin niemals tun. Es ist über die Zeit schon ramponiert genug.
Ha, da hat Riftars neugierige Nase doch wieder mal den richtigen Riecher gehabt! Das verspricht interessant zu werden.
Die hellen Augen werden schmal und ihr Besitzer legt die Stirn in ein beeindruckendes Relief von Denkerfalten. "Brabacciano? - Du meinst nicht zufällig jenen hesindeverlassenen Schwarzmagier, der im Jahre 77 vor Hal im Selemschen mit einer missglückten Satinav-Beschwörung für Dutzende von Jahren ein derartig unheiliges Durcheinander angerichtet hat, dass man da noch heute zwischen Weinbecher und Abtritt die erstaunlichsten Dinge erleben kann?
Oder nein, warte, war das nicht der berühmte Tänzer, dem zu Kaiser Retos Zeit am Garether Hof sämtliche Damen und auch etliche Herren der allerbesten Gesellschaft unrettbar verfallen waren, namentlich die...?" Eine kleine Kunstpause suggeriert angestrengte Denktätigkeit.
Mit aller Kraft versagt sich Atreo neuerliches Losprusten und beschränkt sich statt dessen auf ein immer breiter werdendes Schmunzeln.
"Riftar, du bist köstlich!" meint er schließlich, und er meint dies offenkundig als warmherziges Kompliment, welches er damit begleitet, dass sich sein Arm nun vollends um Riftars Schultern legt. "Nun, ich weiß nichts von jenen Brabaccianos, aber der, den ich meine, war ein sehr erfolgreicher Pirat vor ein paar Jahrhunderten. Der erfolgreichste, den das Südmeer je gesehen haben soll."
Auch Atreo greift nun zum Stilmittel der Pause, doch seine leitet ein, dass nun der wichtigste Teil dieser Erzählung kommen mag.
"Er soll recht lange gelebt und unglaubliche Schätze zusammengerafft haben..."
"...bereits leicht angejahrte Gattin des damaligen Kanzlers für..."
Riftars Redestrom versiegt angesichts der Unterbrechung, und der Almadaner lauscht Atreos Ausführungen mit zunächst leicht beleidigter Miene, die sich aber bei der Erwähnung der Schätze schlagartig aufhellt.
"Ah, ich verstehe!" unterbricht er nun seinerseits lebhaft die Erzählung des Freundes. "Und unmittelbar vor seinem bedauerlichen Ableben stieg er höchstselbst in diesen deinen Weinkeller hinab, um allhier einen genauen Lageplan niederzulegen (den Aufbewahrungsort der unglaublichen Schätze betreffend), und sodann beruhigt seine letzte Fahrt über das Nirgendmeer anzutreten!"
Erstaunlich flink entwindet er sich der Umarmung des Einhändigen, um mit allen Anzeichen des Entzückens den Kellerraum erneut in Augenschein zu nehmen; ganz so, als erwarte er, doch noch das goldbehängte Gerippe eines legendären Piraten zu erspähen.
Atreo nimmt seinen Arm auch von sich aus eilig zurück, dass die Flasche ob einer übereilten Bewegung nicht noch versehentlich zu Boden fällt.
Der Keller derweil wird weder größer noch unübersichtlicher als er es die ganze Zeit war. Eher schon wirkt er ein wenig kahl mit den mäßig gefüllten Regalen. Hier gibt es wahrhaft kaum die Möglichkeit, etwas zu übersehen.
"Verrückter Kerl!" lacht Atreo, nachdem er noch einen unnötigen prüfenden Blick auf die Flasche in der Hand geworfen hat. "Natürlich ist die Geschichte ungleich komplizierter und länger! Und jenes Papier dort ist lediglich ein vierter Teil einer Schatzkarte, die vor einem Jahrhundert von Findern eines der Schätze Brabaccianos angefertigt wurde - wiederum vier Piraten. Es fiel mir zufällig in die... Hand..."
"Vor einem Jahrhundert?" Mit neuem Respekt fixiert Riftar das vergilbte Stück Pergament. "Von Piraten?"
Donnernd hallt der Klang der Schicksalsglocke durch die Weiten des Kellergewölbes, bricht sich an den Wänden, lässt die Flaschen klirren und Ohren und Nasenspitze des feinfühligen und von Hesinde mit einer ausgeprägten Vorstellungskraft gesegneten (manche nennen es auch halbirrsinnigen) Almadaners erzittern, vor dessen innerem Auge sich eine Szenerie voll von sengendem Praiosscheibenschein, geblähten Segeln und über das Deck schallenden Kommandos eröffnet.
Zwei hochgewachsene, schwarzhaarige Männer in buntseidenen Wämsern und Pluderhosen scheinen an der Reling zu stehen, feingliedrig und kurzsichtig der eine, athletisch und einhändig der andere; der Wind spielt in graudurchzogenem beziehungsweise mit bunten Bändern durchflochtenem Haar, und die Blicke der beiden sind auf einen flimmernden Horizont gerichtet.
Ein heißer, salziger Windstoß fährt durch den kleinen Kellerraum.
"Der vierte Teil...?"
Von Riftars Meeresbrise bekommt Atreo nichts mit. Oder doch? War da nicht ein Lüftchen? Aber hier unten ist das doch nicht möglich, ist sich der einhändige doch absolut sicher, dass von diesem Kellerchen kein Geheimgang zum Schloss - oder sonstwohin - führt! Vielleicht ist es einfach nur das wie von selbst aufgeregt wehende Haar Riftars, das Atreo etwas vorgaukelte, was nicht ist oder allenfalls mal sein wird.
"Ja, ein Viertel... Schau es dir ruhig an, wenn du Spaß daran hast! Es stammt, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, vom Bootsmann..."
Das lässt sich Riftar nicht zweimal sagen! Ohne die Flasche aus der Hand zu legen, greift er mit der anderen nach dem vergilbten Pergament. Allein, einen zusammengelegten Zettel mit einer einzigen Hand zu entfalten, die dazu auch noch vor Aufregung zittert - das wäre jetzt wahrlich zu viel verlangt. Und da der Keller offensichtlich keine weiteren Geheimnisse mehr birgt (wenn man von dem vielversprechenden Flaschensortiment einmal absieht, das noch seiner weiteren Begutachtung harrt) und die Weinauswahl für den Augenblick beendet ist...
"Wollen wir es mit hinaufnehmen?" fragt er den Einhändigen mit leuchtenden Augen.
"Ja, gern. Meine Augen sind auch nicht mehr die besten. Oben haben wir mehr Licht."
Wie so oft vergisst Atreo jegliche Etikettevorschriften und macht sich sogleich wieder an den Aufstieg. Nicht ganz einfach, wenn man in der einzigen Hand eine Flasche hält, aber nach all den Jahren ist er es gewohnt, seinen Stumpf auch ohne Haken recht effektiv einzusetzen, und obgleich die Leiter recht steil ist, muss er sich nicht einmal ständig festhalten.
Oben angekommen, stellt er die Flasche auf den Tisch und schaut anschließend mit einem selbstzufriedenen Schmunzeln nach dem folgenden Gast.
Wer würde in so einem Augenblick auch nur einen Gedanken an Etikette verschwenden? Da Atreo näher an der Leiter steht, erscheint es nur natürlich, dass er zuerst hinaufsteigt, hinauf zum Licht... je nun, Licht wäre nicht das Problem gewesen, denkt sich Riftar. Doch nun hat ihn des Einhändigen kurzentschlossener Aufstieg der Entscheidung überhoben, ob er zum Fingerschnippen lieber die kostbare Flasche oder aber die geheimnisvolle Schatzkarte aus der Hand legen soll.
Noch während Atreos Körper das durch die Luke einfallende Tageslicht deutlich reduziert, steht auch der Gast schon am Fuße der Leiter - um daselbst festzustellen, dass das Problem der beiden gefüllen Hände auch hier noch besteht. Kurzentschlossen schiebt er das Pergament mit der Rechten in den linken Ärmelaufschlag seines fadenscheinigen Samtrocks und folgt dem Gastgeber hinauf in die Küche, wo er die zweite Flasche neben die erste stellt, um sodann mit andächtiger Miene das Schriftstück aus dem Ärmel zu ziehen und es sorgfältig auf dem Küchentisch zu enfalten.
Immer fröhlicher schmunzelnd, beobachtet Atreo den Freund bei seiner gedanklichen Entdeckungsreise ins tiefe Südmeer.
Der Zettel, der an Länge und Breite in etwa die Ausmaße einer Hand hat, nachdem er einmal längs und einmal quer entfaltet wurde, droht an den Falzstellen teilweise schon auseinanderzufallen. Hier und da befinden sich Wasserflecken und eine zerquetschte Mücke am bräunlichen Papier. Worauf es aber ankommt, sind natürlich Kartenausschnitt und Begleittext auf der Vorderseite, sowie ein paar unvollständige Zeilen auf der Rückseite.
Tief über den Tisch gebeugt, bald über den Rand der Augengläser hinweg, bald durch dieselben hindurchschauend, vertieft sich Riftar in das vergilbte Stück Pergament, dreht es um und um, um es von allen Seiten zu studieren. Mehrmals öffnet sich sein Mund, als wolle er etwas sagen, ohne den Blick vom Objekt seiner intensiven Studien zu heben, um sich dann wieder zu schließen, ohne dass ein Wort über die Lippen des Almadaners gekommen wäre. Schließlich hebt Riftar den Kopf, um Atreo mit leuchtenden Augen anzusehen.
"Wann br..." platzt er heraus, um sofort wieder abzubrechen. Sein Blick hat sich schlagartig verdunkelt; und er schüttelt den Kopf wie ein Mann, der auf die größte Dummheit seines Lebens zurückblickt.
Schließlich schaut er Atreo ins Gesicht. "Die Karte liegt natürlich schon seit geraumer Zeit in deinem Weinkeller?" beginnt er vorsichtig. "Nicht etwa, weil du sie sicher verstecken wolltest, damit sie dir nicht abhanden kommt bis zu dem Tag, an dem die große Fahrt beginnt, sondern, weil du sie einfach da vergessen hast? Weil du sie nämlich nicht mehr brauchst... weil der Schatz schon längst gehoben ist?" Fast flehend bleibt der Blick der hellgrünen Augen auf den Einhändigen geheftet.
Was ist es doch für eine Freude, diesem Manne zuzuschauen! Diese Begeisterungskraft erinnert Atreo an sich selbst in jüngeren Jahren, zu Zeiten, als nicht die Leere einer überwundenen unglücklichen Liebeskrankheit sein Wesen beherrschte, das Warten auf den krönenden Abschluss.
Doch dieser Anblick verscheucht alle Trübsal des Alltages. Immer breiter verzieht sich Atreos Mund von einem Schmunzeln über ein Lächeln bis hin zu schamlosestem Grinsen. Die ersten eineinhalb Wörter Riftars wirken wie ein Funke auf knochentrockenes Stroh. Nur mit allergrößter Mühe und einem ganzen Eimer Schweißes vermag sich der Einhändige zu beherrschen, um nicht nochmal in Lachen auszubrechen - ein Lachen, dass die anderen unten im Keller allesamt leicht in den Schatten stellen könnte!
In Konzentration erstarrt, müht sich Atreo weiter ernsthaft zuzuhören. Sein Freund tut ihm leid und wird ihm zugleich mit jedem Wort vertrauter. Hin und hergerissen zwischen dem noch immer drohenden Lachen und dem immer stärkeren Bedürfnis, den Freund an sich zu drücken, gibt er schließlich von einem Augenblick zum anderen beidem nach.
Es ist eine kraftvolle Umklammerung, die er Riftar beschert, eine zugellos gefühlvolle. Und durch das Zittern des Lachanfalles wird das Opfer zudem noch heftig durchgeschüttelt.
"Oh, ich könnte mich in dich verlieben, wenn du eine Frau wärest! Nein, mein Freund, mein Herzensbruder! Hab keine Furcht! Soweit ich es zu beurteilen vermag, liegt der Schatz noch irgendwo auf einer Insel im Südmeer. Ich kam noch nicht dazu, die anderen drei Teile zu suchen. Ich muss erst..."
Er schluckt, verschluckt sich fast und wird schlagartig ein wenig gefasster. Das freudige Blitzen in seinen Augen weicht einem traurigen Lächeln.
Von der Bärenumarmung und den Worten Atreos völlig überrumpelt, fehlen dem sonst so schlagfertigen Almadaner für den Augenblick die Worte. Gleich vier weit aufgerissene Augen scheinen den Einhändigen anzustarren, denn die Brille ist im Zuge der ungestümen Umarmung über die lange Nase herabgerutscht; und der Überfallene denkt für den Augenblick noch nicht einmal daran, sie wieder hinaufzuschieben. Wie erstarrt steht er da; und erst, als der Freund seinen Griff ein wenig lockert, zucken die Mundwinkel ein wenig. Statt sie hochzuschieben, nimmt er die Brille mit einer unsicheren Bewegung ab und hält sie in den leicht zitternden Fingern.
Der Ausdruck der hellgrünen Augen ist schwer zu deuten. Ein unbestimmtes Leuchten ist in ihnen, eine stumme Frage scheint darin zu stehen - doch je länger der kurzsichtige Blick dem Blick Atreos begegnet, desto weniger kann ein Zweifel daran bestehen: Dem Almadaner stehen Tränen in den Augen.
Der Anblick stürzt Atreo in Angst und Schrecken. War er zu aufdringlich. Hat seine vielleicht etwas sehr gefühlsgeborene Bemerkung mit dem Verlieben dies ausgelöst?
Unschlüssig weicht er zurück, doch gleich wieder hilfsbereit vor. "Verzeih... was immer dich so aufbringt, war es wohl meine Schuld... Wie ist dir?" Besorgt schaut er den anderen etwas von unten und der Seite her an, die eigenen Sorgen bereits wieder gänzlich vergessen.
"Nein, weißt du... ich meine, nein, es geht mir gut..."
Riftar räuspert sich und fährt rasch mit der Faust über die Augen - eine Geste, die merkwürdig kindlich und unbeholfen wirkt. Dann schaut er dem Einhändigen mit weit offenem Blick wieder ins Gesicht.
"Es ist nur, weil..." Hilflos bricht er ab. Mit einer abrupten Bewegung wendet er sich ab und tut einen staksigen Schritt in Richtung Fenster. "So hat mich noch nie jemand genannt", kommt es sehr leise herüber. "Ich glaube, ich habe keinen wirklichen Freund... hast du das mit dem Herzensbruder ernst gemeint?"
Erleichtert atmet Atreo auf. Rührung! Na, das löst er gern mal bei jemandem aus!
Mit einem stillen, sanften Schritt folgt er dem anderen ans Fenster. Seine Stimme folgt diesem Beispiel, als er ruhig und tief beteuert: "Aber ja, mein Junge!" Die Pause, die er macht, ist zu kurz, etwas Unhastiges einzuwerfen. "Ich weiß, wahre Freunde sind selten. Selbst unter meinen längsten Reisegefährten."
Zahllose Gesichter führen für des Einhändigen geistigem Auge eine Parade auf, doch lediglich eine Handvoll wendet ihm auch nur den Blick zu. "Seltsam, sehr seltsam...! Schon wieder bin ich versucht, die Rede auf Feledrion zu bringen..."
Das durchs Fenster einfallende Morgenlicht verwandelt die Glasperlenketten auf Riftars Brust in eine Kaskade funkelnder Tropfen, deren Reflexe wie Irrlichter durch die Küche und über Atreos Gestalt huschen, als Riftar sich mit einer im Tanz der funkelnden Lichtpünktchen merkwürdig ruhig anmutenden Bewegung zu dem Freund herumdreht. Sein Gesicht mit den großen, hellen Augen wirkt irgendwie schutzlos ohne die Augengläser.
"Was ist dran seltsam?" fragt er leise und blickt Atreo mit ungewohnt sanfter Neugier ins Gesicht. "Du hast es doch gerade selbst gesagt: Wahre Freunde sind selten. Und wenn ich dich recht verstanden habe, dann ist Feledrion ein wahrer Freund für dich."
Grüblerisch legt Atreo seine Stirn in Falten, während seine Lippen von einem unsicheren und wechselhaften Lächeln umspielt werden. "Nunja... vielleicht. Im Grunde sind wir uns sehr unähnlich, gerade was die Interessen anbelangt. Mir scheint fast eher, er ist so eine Art Ersatz für einen Vater" - dem Einhändigen erwächst ein schalkhaftes Grinsen - "und Mutter, Großeltern, Lehrer und Priester - all die Leute, die ich nie kennengelernt habe." Er lacht fast ein wenig boshaft, dann hebt er die Hand, Riftar wieder zurück zum Tisch einzuladen.
"Ich glaube, ich brauche noch ein Stück Brot. Frühstücken mit dir macht Appetit!"
Nie kennengelernt... Riftar versucht sich vorzustellen, was das heißt. Nun ja, seinen Vater hat er erst vor wenigen Jahren so richtig kennengelernt, aber die Erinnerungen der Kindheit sind angefüllt mit Bildern von bunten Wagen, staubigen Landstraßen und vielen lebhaften Menschen... unter anderem eine verhärmte Mutter und eine Horde kleiner Geschwister. Versonnen folgt er dem Einhändigen zum Tisch.
"Wie... wo bist du denn aufgewachsen, Atreo?" fragt er schließlich.
"Havena", erwidert Atreo sich wieder setzend. "Aber das ist ja kaum noch wahr!" Er greift nach dem Brot, als er den Wein erspäht. "Ach, wir brauchen ja noch etwas..."
Breit grinsend erhebt er sich wieder und holt aus einer Schublade ein recht ungewöhnliches Gerät hervor. Es scheint aus metall und ist gewunden wie ein Korkenzieher - allein, es besitzt auch ein ledernes Gefäß mit Schnallen daran. Ebendies stülpt Atreo mit einem bedeutungsvollen Schmunzeln über seinen Stumpf und befestigt es dort. Mancher mag schon Einhändige mit einem Haken gesehen haben, mancher auch mit einem Lilienhaken, diesen Korkenzieher aber darf man als seltenes Kuriosum betrachten.
Fasziniert beobachtet Riftar die Verrichtungen de Einhändigen mit dem seltsamen Gerät. "Wie überaus praktisch!" merkt er an. "Und Frühstücken mit dir, lieber Freund, macht durstig!" Mit neuem Schwung ergreift er den leeren Krug, öffnet die Tür und eilt zum Brunnen, wo er zunächst die Reste der Milch mit dem im Eimer verbliebenen Wasser ausspült, bevor er den Eimer ausleert und ihn sodann in den Brunnen hinablässt, um ihn mit frischem Wasser zu füllen.
"Ohja", bestätigt der Einhändige halblaut, da der junge Gast bereits zur Türe hinausgesaust ist. Lächelnd entkorkt er die Flasche. Dann fällt ihm auf, dass man wohl passendere Gläser bereitstellen könnte. Diese sind schnell gefunden. Es fällt leicht, Ordnung zu halten, wenn man so selten zuhause ist. Eine tulamidische Weise summend, schenkt er je ein größeres Schlückchen in die beiden Gläser, damit man erst einmal kosten kann.
Einen Augenblick später ist der Gast mit seinem Krug voll frischen Brunnenwassers zurück und schließt sacht die Tür hinter sich. Seine Augen leuchten auf, als er der neuen Gläser gewahr wird; und sorgfältig plaziert er den Wasserkrug genau zwischen ihnen auf dem Tisch, ehe er sich wieder an seinen Platz setzt. Einen Augenblick sieht es aus, als wolle er etwas sagen; doch besinnt er sich anders und wartet zunächst einmal, dass auch der Gastgeber seinen Platz am Tische wieder einnehmen möge. Sein Blick wandert erwartungsfroh zwischen dem Einhändigen und den Trinkgefäßen hin und her.
Atreos Stoppelbart zieht sich seitlich auseinander zu einem breiten Lächeln. Oder doch eher zu einem höchst belustigten Schmunzeln? Gar zu neugierig ist er auf die Worte Riftars versessen. So viele erheiternde Dinge hat der heute schon von sich gegeben, dass der Einhändige nicht lange auf die nächsten zu warten bereit ist. Folglich versetzt er sich - buchstäblich - in jene Position, die Riftar offenbar von ihm wünscht. Seine Hand strebt bereits nach dem Glase, doch möglicherweise will Riftar ja noch vor einem Trinkspruch etwas loswerden, das bei allzu großer Hast unter den Tisch fiele. Das wäre schade drum!

Dieses Szenario wurde in der Mailliste BFW gespielt und wird vielleicht einmal fortgesetzt.


Atreos Haus / ZGE-Ausschnitte

Redaktion & Lektorat: OHH