Liebfeldpolarexpedition

Verfasser: Oliver H. Herde

Gern würde Reska noch ein wenig am Tee nippen, doch leider hat die Blase andere Absichten. Schon ist die hochgewachsene Gestalt aufgestanden. Nach einem Nicken an die beiden Damen huscht sie zur Eingangstüre und hinaus in die Kälte.

Gedankenverloren trottet Reska nach rechts die Hauswand entlang, um im Schneegestöber die Orientierung zu behalten. Es gäbe drinnen wirklich ein paar interessante Gäste, aber ein Gespräch aus dem Nichts zu zaubern, ist immer eine rätselhafte Fähigkeit geblieben. Die Zeit als Stumme hat dies eher noch verschlimmert.
Um die erste Hausecke herumgebogen, steigert sich die Aufmerksamkeit für das noch unsichtbare Ziel. Bei der Ankunft war dort hinten dicht beim Hauptgebäude ein Verschlag zu sehen gewesen. Hoffentlich nicht bloß ein kleines Lager, Kaninchenställe oder was immer man hierzulande sonst so zu benötigen vermeint!

Da ist er ja, der Kasten! Nun wird es sich zeigen, ob Reska am rechten Platze ist. Zuerst will allerdings die Türe geöffnet werden, was aufgrund der sie etwas blockierenden Schneeverwehung ein wenig Kraft benötigt. Nach einigem Ziehen und einem Ruck ist der Eintritt hinreichend frei für einen prüfenden Blick. Keine Kaninchen - nur schemenhaft der Balken mit dem finsteren Loch; sehr gut! Rasch schlüpft Reska hinein.

Es erweist sich nicht eben als entspannend, wenn der eisige Wind geräuschvoll an den Brettern rüttelt und überall durch die Ritzen pfeift. Hat da wer geklopft? Reska lauscht angestrengt, ohne einen Mucks von sich zu geben.
Unheimlich. Kommt es nicht eher von rechts? Ein Tier vielleicht?
Nun knarrt es links. Vielleicht hätte Reska doch die Molokdeschnaja mitnehmen sollen? Ganz ruhig bleiben; da ist nichts als der Sturm! Es gibt keinen wirklichen Grund zu der Annahme, dass er den Bretterverschlag mit Reska darinnen zerlegen wird - oder dass dort draußen Mensch oder Tier umherschleichen, um norbardische Reisende zu erschrecken oder zu verspeisen. Angst ist kein guter Ratgeber.

Beinahe vermeint man, irgendwo draußen werde über Reskas Verunsicherung gelacht. Nach all den Erlebnissen mit Magiern und Hochelfen im rauhen Norden ist das ja auch wirklich lächerlich! Aber da waren wenigstens Jarolech, Shiannon und die anderen dabei...
Schnurzwurst! Nach wenig ergiebigen Blicken in die allgegenwärtige Dunkelheit wird die Türe geöffnet und hinausgetreten. Vor der Rückkehr in den Schankraum könnte Reska ja noch kurz nach Mokosch sehen. Folglich wird der ungemütliche Weg um das Haus fortgesetzt.

Auch hier draußen lässt sich nicht sicher feststellen, ob irgendwelche Geräusche dem Geschehen im Schankraum zuzuordnen sind oder sie nicht vielleicht doch sämtlich dem bei aller Wechselhaftigkeit beständigen Hintergrundrauschen des Sturmes angehören. Letztendlich spielt dies keine Rolle. Für Wegelagerer oder Raubtiere auf der Pirsch scheinen dies jedenfalls denkbar schlechte Bedingungen.
Zur Rechten die Hauswand, muss Reska auch nicht fürchten, sich zu verirren. Aber was ist dies dort, wenige Schritt entfernt? Es scheint von seiner Grundfläche her ringförmig zu sein, wirkt jedoch für einen Brunnen allzu niedrig, klobig und unregelmäßig.
Näher heran, gibt sich ein über den Winter geschrumpftes Rund aus Holzscheiten unter der zunehmenden Schneedecke zu erkennen, welches die Vorräte an den Außenwänden des Hauptgebäudes ergänzte. Kein Grund für einen längeren Aufenthalt.

Vorüber an einem Holzklotz gelangt Reska alsbald an den wirklichen Brunnen aus Stein, wüsste jedoch nicht, was es hier zu holen gäbe. Dennoch übt das kleine Gemäuer eine seltsame Anziehungskraft aus, welcher Reska nicht leicht widerstehen kann - und wozu auch! Ein Blick hinein ergibt indes wenig mehr als wirbelnde nachtgraue Punkte vor gähnender Schwärze. Vermutlich läge die gewiss gefrorene Oberfläche selbst am Tage bei gutem Wetter zu tief drunten.

Erst spät bemerkt Reska den anscheinend recht ausgedehnten verschneiten Garten jenseits des Ziehbrunnens. Bei milderer Witterung würde sich ein kurzer Besuch vielleicht lohnen.
So jedoch geht es weiter an der weiß gefüllten Reittiertränke vorüber und auf ein Nebengebäude zu, offenbar einen weiteren Stall mit einem Unterstand für einen großen oder wenige kleine Fuhrwerke. Wo ist denn die Wand des Haupthauses abgeblieben? Ach, die endete ja bereits auf Höhe der Tränke!

Sich nach rechts wendend, gelangt Reska auf den kleinen Hof zwischen den Ställen. Stimmt, von der anderen Seite her haben sie Mokosch und Ninoschka hineingebracht. Die Schneewehe vor dem Tor erweist sich naturgemäß als sehr viel umfangreicher als jene beim Abort. Nun wäre eine Schaufel hilfreich.

Leider lässt sich hier draußen kein geeignetes Werkzeug finden. Wohl könnte welches unter Schnee und Dunkel verborgen liegen - wahrscheinlicher befindet es sich drinnen, wo man es nicht mehr braucht, wenn man nur erst einmal dort ist. Dies ist augenscheinlich der Spott des Lebens.
Folgerichtig wird die Räumarbeit mit Händen und Füßen begonnen.
Im Stall wendet derweil Mokosch sein mächtiges Haupt dem Tore zu, da er ungewöhnliche Geräusche vernimmt.

Es ist nicht eben leicht, Schnee von hier nach dort zu bewegen. Dafür wärmt es ungemein! Die Anstrengung kostet Schweiß genug, dem Elch im Inneren durch Kleidung, Sturm und Stalltor hindurch zu verraten, wer da naht. Geduldig kaut er noch ein wenig vor sich hin, auch wenn es eigentlich gar nicht recht mehr etwas zu Kauen gibt.

Ein Weilchen darauf ist der eine Torflügel soweit befreit, dass er sich einen tüchtigen Spaltbreit aufziehen lässt, um der aller wärmenden Schichten zum Trotze schlanke Gestalt ein Hindurchschlüpfen zu ermöglichen. Ihre ersten Eindrücke nach dem Schließen der genutzten Öffnung sich die scheinbar vollkommene Finsternis sowie der vertraute Stallgeruch, welcher sich aus den Ausdünstungen der Tiere und ihrer Exkremente, weniger durchdringend auch feuchten Holzes und Strohs bildet.
Aufgrund des für das Zuziehen notwendig erfolgten Umwendens weiß Reska den vierbeinigen Gefährten nunmehr zur Linken. Langsam und in achtsamer Körperspannung erfolgen dem optischen Nichts geschuldet die Bewegungen. Mit wenigen wohlgezielten Schritten hat Reska unter Zuhilfenahme von Mokoschs markanten Atemgeräuschen und seines speziellen Duftes seinen Stellplatz erreicht und schiebt sich an seiner Flanke entlang.
Der Große regt sich kaum, Reska nicht versehentlich zu treten oder umzustoßen; lediglich das Haupt schwenkt um ein Wenig zur Rechten, wodurch das enorme Geweih leicht an der Stallwand kratzt.

Sanft tätschelnd tastet sich Reska zum Elchskopfe voran. "Na, mein Alter?" brummt es aus der so sparsam zum Sprechen verwendeten Kehle. "Dir scheint es wohl zu gehen."
Leichte Stiche im Gesicht kündigen an, wie es gleichsam zu tauen beginnt. "Hast es schön warm hier und friedliche Zimmergenossen, die nicht schnarchen." Die im Gegensatz zu draußen als schwül und abgestanden empfundene Luft verlockt erfolgreich zum Gähnen. "Bist du auch so vollgefressen wie ich? Mit Urszula haben wir es recht fein getroffen."
Nochmaliges, um so herzhafteres Gähnen. "Ich leiste dir kurz Gesellschaft." Eigentlicher Grund neben dem Gefühl der Verbundenheit ist das Bedürfnis, sich auszuruhen. Vertrauensvoll, nicht in den Boden gestampft zu werden, lässt sich Reska nieder, lehnt sich an die niedrige Trennwand und schließt die Augen - zu sehen gibt es ja eh nichts. Oder bewegen sich dort im Nebel der Müdigkeit nicht Menschen...?

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Ausschnittliste / anwesende Gäste / Lageplan

Redaktion und Lektorat: Oliver H. Herde im Jahre 2020/21