Landratte voraus!
Verfasser: Günter Hölscher, Oliver H. Herde und andere
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Wieder ist eine Schlacht geschlagen. Ein wenig schränken all die fehlenden Körperteile eben doch ein. Aber der Kapitän ist ja froh, wenigstens noch beide Knie zu haben, kennt er doch manch bedauernswerten Matrosen, welchem das Holzbein weit höher gereicht als ihm. Jene haben es dann gar nicht immer so leicht, selbiges in derart beengten Räumlichkeiten überhaupt unterzubringen. Schlimmstenfalls werden sie es wohl bei ihrer Sitzung die gesamte Zeit emporheben müssen wie einen Entersäbel zum Schlage. Oder lassen einfach offen.
Wie auch immer. Alte Seebären sind findig, sonst wären sie nicht so alt geworden. Die Tür auf und... Hallo? Wo klemmt das hier? Auf, verwünscht noch eins!
Nach kurzem Rütteln geben die Bretter, die die Tür bedeuten, nach und den Weg hinaus frei. Ah, Luft! Mehr davon! Mit einem Sprung ist Kvalor draußen, die Krücke schlägt achtlos das wiederspenstige Zimmermannswerk zu. Eine hochwillkommene, reinigende Briese weht ihm um die Nase.
Als genug Begrüßung und Unterhaltung mit dem Beleman stattgefunden hat, setzt sich der Freibeuter wieder in Bewegung. Langes Stehen auf der Brücke hat ihm nie etwas ausgemacht. Hier jedoch ist weit weniger zu sehen, und die fehlenden Bewegungen unter dem Fuß und dem Holzbein lassen ihm das Verharren tatsächlich ein wenig anstrengender erscheinen.
Schritt um Schritt seiner drei Gehwerkzeuge gleitet der Seebär über den nur mäßig gewellten Erdboden hinan zur Straße und ums Hauseck. Sieh an, eine Kutsche! Ist eben keine Hafenkaschemme, das Gasthaus.
GH
Der Magere auf dem Gepäckbock reicht dem Burschen eine eisenbeschlagene Truhe mit gewölbtem Deckel hinab. Benko muss schon beide Arme ausbreiten, um sie entgegenzunehmen, und gerade noch rechtzeitig lässt der Kutscher sein "Vorssicht, is schwer" mit zischender Stimme verlauten. "Bücher und sson Kram."
Der Dunkle springt mit einem scheppernden Satz auf die Erde, dem Jüngling zur Seite. "Bissn guter Jung", raunt es zu Benko hinüber. "Hast Arbeit hier?"
Ein wenig verstohlen lugt ein rundlicher Mann zu dem Fahrer.
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Drei Männer also, einer davon nicht ganz unvertraut, wenngleich bekannt völlig überbezeichnet wäre. Jene anderen beiden sind offenkundig mit dem Wagen angekommen. Solch eine zylindrische Kopfbedeckung wie bei dem Silbergelockten erinnert sich der Kapitän nicht, schon einmal gesehen zu haben. Dabei muss es sich wohl um eine Liebfelder Mode handeln.
Wie auch immer. Einige weitere Humpelschritte darauf ist er auf Höhe des Fahrzeuges angelangt. Dem Fahrgast sieht man ein gewisses Wohlhaben deutlich an. Adelig wirkt er jedoch nicht. "Ahoi, Meister", geht der Gruß in höflichem Tone, wobei Kvalor allerdings nicht wesentlich langsamer wird, rechnet er doch nicht damit, dass der Reisende gleich bei seiner Ankunft ein Gespräch zu beginnen wollen könnte.
GH
Der an der Kutsche wartende Reisende vermeint, sich unerwartet von der Seite angerufen zu fühlen. Sein Kopf rückt reflexhaft in die Richtung des Grußes.
'Ahoi?' Sollte er denn erneut in der grauen Stadt am Meer gelandet sein, von welcher er aufgebrochen ist? Hat der Kutscher ihn im Kreis gefahren, oder will ihn hier irgendwo an der menschenleeren Küste absetzen? Denn als er die Gestalt sieht, die sich ihm genähert und ihm zugerufen hat, kann der rundliche Herr nicht anders, als an einen der verwegenen Piratenkapitäne zu denken, deren Abbild er in einem der vielen illustrierten Almanache gesehen hat, die er in den letzten Monaten zur Hand nahm.
Der totenbleiche Kutscher, der wilde Seefahrer - welcher Geschichte mögen diese Gesellen entsprungen sein, die offensichtlich schon am Anfang seines Abenteuers erschienen sind, um den Mut des kleinen Mannes zu prüfen? Es ist eine Sache, in sicherem Gefährt das Märchen des eigenen Lebens zu spinnen, eine andere, es dann auch am eigenen Leibe zu erleben.
Einen kühlen Schauer nach dem anderen fühlt Herr Tellicherri seinen Rücken hinunter rinnen, als ihm gewahr wird, dass es ja eben dieser Grusel ist, den viele Leser abenteuerlicher Erzählungen suchen. Was Wunder, wenn er diesen nun erfährt - er, der sich Abenteuer gewünscht hat! Und was ist das für ein Held, der sich gleich zu Anbeginn der Geschichte fürchtet?
So ermannt er sich, strafft die kurze Leibeslänge, setzt den Hut auf seinem Haupt gerad auf. "Die Götter zum Gruß, Herr Kapitän!" ruft er aufs Geratewohl aus. Auch wenn der weiche und leise Töne gewohnte Klang seiner Stimne nicht von der größten Kühnheit künden mag, so ist er wenigstens höflich. "Ist dies das Haus zum Grünen Eber?"
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Na, was! Wirkt fast ein wenig erschreckt, der gute Mann! Aber wenn man so aus dem Dunkel auftaucht, ist das ja kein Wunder. Möglicherweise ist diese Landratte ja manchen Straßenraub gewöhnt. Obwohl sie eher so schaut, als sei dies ihr erster.
Aber anstatt etwas herauszufordern, gibt der Seebär bereitwillig Auskunft: "Jawohl, der Herr; dies ist er. Ihr habt Euer Ziel erreicht." Dabei winkt er mit dem Haken zu dem grün angelaufenen Kupferschilde bei der Türe empor.
Was mag so jemand hier wohl suchen? Die Dame vielleicht?
GH
"Oh nein", antwortet der dienstbeflissene Bursche, "ich bin ein wandernder Handwerker auf dem Weg nach Hause, nicht weit von hier."
"Kann dich mitnehmen, ein Stück", schnarrt es sogleich zu ihm herüber, wobei der Bleigesichtige das Haupt wiegt. "Bin jetzt frei und soll heut abend nach Ssolstono. Und morgen zurück nach Bethana. Dann weiter nach Ssüden."
"Nicht nötig, aber vielen Dank", verbeugt sich Benko artig,"ich reise mit eigenem Wagen."
Die Antwort des Seefahrers entspannt die Haltung des Angekommenen sichtlich. Er lässt zuerst die Schultern sacken und lüftet anschließend mit erhobenem Arm leicht den Hut gegen den Seefahrer. "Besten Dank, der Herr!"
Doch kaum hat er die Kopfbedeckung wieder an ihrem vorgesehenen Platz, kaum fühlt er sich der einen Sorge entnommen, dass der Kutscher ihn bloß im Kreise kutschiert hat, kommt eine neue Furcht über sein Haupt: Woher weiß der Seemann, dass er, Herr Tellicherri, hier am Ziel ist? Das hat er doch mit keinem Wort erwähnt! Woher und warum scheint man über seine Reise unterrichtet zu sein?
Einen Augenblick kraust sich die Stirn des Rundlichen von Furcht und Misstrauen. Dann wird sie wieder glatt. Will man etwas wissen, ist das Nachfragen der bessere Weg, als das Zweifeln. So lüpft er abermals den Hut und richtet das Wort an den vermeintlichen Kapitän: "Tellicherri. Abraxas Tellicherri zu Euren Diensten. Und mit wem habe ich die Ehre?"
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Zu ebensolchem Lüften des Hutes fehlt dem Seemann neben einer freien Hand auch der Dreispitz, den er auf dem Tische hat liegenlassen. Eine dessen ungeachtet formvollendete angedeutete Verbeugung muss genügen. "Kapitän Kvalor Hullheimer zu den Euren!" Es ist ja nicht anzunehmen, dass dieser freundliche Stutzer bei ihm anheuern will. Aber neugierig macht er dennoch, denn irgend etwas Seltsames geht doch in ihm vor, soviel ist sicher!
GH
"Gut", schnarrt der Fuhrmann in dunklem Mantel zu dem Burschen hinüber. "Dann bin ich fertig hier..." Er hebt die Hand an die Stirn und tickt sich mit dem mageren Finger an die Schläfe. Es folgt ein fast vertrauliches Flüstern.
Während er sich abwendet raunt er noch, wie für sich selbst: "Die Allermeisten sseh ich wieder."
Benko nickt. Dann hebt er die Truhe.
Ob dieser fremd anmutende Name ihm etwas sagen soll? Vielleicht hat man womöglich diese Situation vorbereitet, um ihn zu empfangen? Man weiß, dass er kommt, man hat jemanden abgestellt, um ihn in Empfang zu nehmen, sich zu überzeugen, dass er es ist... Aber warum bloß? Vielleicht, weil es in einem Abenteuer so sein muss? Wer oder was mag dort drinnen warten? Oder macht er sich bloß verrückt?
Viel Zeit darüber nachzudenken hat der rundliche Herr nicht. Denn nun dringt der magere Kutscher dicht an ihn heran und schließt die Wagentür. Eingezwängt zwischen Tod und wildem Mann, so fühlt der Angekommene einen Augenblick, weicht zur Seite und versucht, sich dünn zu machen. Als der Furmann die Türe mit einem kleinen Knall zuschlägt, zuckt er zusammen. 'Huppsa!'
Aber dann kommt ihm wieder in den Sinn, dass der Seefahrer durchaus ein Höflicher ist. Wieder fährt die Hand an den Hut. "Sehr... angenehm!" macht er verlegen. "Ihr seid womöglich auch ein Gast hier?"
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Nanu, hat der feine Herr etwa Furcht vor seinem eigenen Kutscher? Wobei es ja offenbar nicht direkt der seine ist, sondern es sich um eine eher kurz anzunehmende Bekanntschaft handelt - einen Mietling.
Nun könnte man dem Ängstlichen die Hand tätscheln und etwas sagen wie: 'Nun, nun, er ist ja gleich weg, dein schauriger Fuhrknecht!' - ein kurzes Grinsen entblößt die etwas marode Zahnreihe - oder sinnigerweise einfach auf die jüngste Frage antworten: "Ganz recht, ich bin auf der Durchreise." Was sollte jemanden wie ihn auch ansonsten in so einem Gasthof umtreiben! Das Auftischen der Speisen würde sich fraglos schwierig gestalten. Man könnte ihn wohl bestenfalls als einen Märchenerzähler anheuern. "Wobei ich mich ein wenig verfahren habe", gesteht er ein, um nicht zu einsilbig zu wirken.
GH
Ein wenig verfahren? Der kleine Herr entspannt sich sichtlich, und sein Gesichtsausdruck wird sogleich ein wenig munterer, was sich in einem leichten Lächeln und dem Glänzen seiner Augen kundtut. Wie eine Falle wirkt dies nicht. Denn ein Seefahrer, der sich auf dem Land verfährt, ist eine sympathische Erscheinung.
"Das kann wohl jedem passieren", nickt der Rundliche verständnisvoll. "Wohin wolltet Ihr denn eigentlich reisen?"
Ein erleichtertes Seuzen lässt er noch folgen, da er sieht, wie der unheimliche Furmann mittlerweile wieder den Kutschbock erklommen hat.
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Des Kapitäns Blick folgt jenem seines Gegenübers, wenngleich dabei nicht so viele Gefühle oder Gedanken freigesetzt werden wie bei dem anderen.
"Nun, langfristig Brabak, aber hier wollte ich eigentlich nur ein klein wenig ins Landesinnere hineinspähen. Dabei bin ich wohl eingeschlafen und habe den interessantesten Teil verpasst." Das Lächeln weist darauf hin, wie wenig schlimm dieser Verlust sein mag.
"Und Ihr? Was führt Euch zu gerade diesem Hause?" ist die höfliche Gegenfrage, welche es sich zu stellen geziemt, wenn man nicht nur von sich selbst erzählen will. Zudem könnte es ja wirklich interessant sein, was jemand wie diesen Herrn in solch abgelegenen Gasthof verschlägt.
GH
Zunehmend weicht das Schauern, welches sich um das Herz des Ankömmlings gelegt hatte, einer lebhaften Neugier und einem wärmer werdenden Interesse für den Kapitän, der sich als durchaus gesprächig und wortgewandt erweist. Diese Zungenfertigkeiten hätte er bei dem rauhen, gewiss durch viele Gefechte zu Wasser hindurchgegangenen Seebären nun eher nicht erwartet.
Der silberlockige Herr kommt jedoch nicht weiter dazu, sich sein Gegenüber von Geschossen umtost und auf schwankenden Planken vorzustellen, wie er es in mancherlei Geschichten gelesen und sich vorzustellen gelernt hat. Denn eh er sich versieht und zur Seite springen kann, ist er selbst von einer Frage getroffen. Diese pariert er jedoch erst einmal mit einer Gegenfrage, wenn auch einer rhetorischen: "Und ich dachte, der interessanteste Teil sei hier!"
Ohne es recht zu merken, stellt er sich ein wenig auf die Zehenspitzen, um zum Hause hinüberlugen zu können.
Doch dann wird ihm feierlich zu Mut und er wippt wieder zurück auf die Hacken. Ein Strahlen legt sich um seinen Mund und seine Wangen erröten leicht, auch wenn dies ob der Dunkelheit kaum zu bemerken ist. "Ich sammle Abenteuer", verkündet Herr Tellicherri leise und feierlich.
Der Bursche wartet geduldig, während der Eigentümer der Truhe sich in das Fahrwasser eines Gespräches mit dem alten Seemann begibt. Dieser passt eigentlich sehr gut zu der schweren Schatzkiste, die Benko hält. Nach dem Abstellen kann er den Kutscher besser beobachten, der bereits die Tür zu erneuter Abfahrt geschlossen hat und mit quietschenden Gelenken auf den Bock gestiegen ist. Oben auf dem Sitz greift jener zu den Zügeln der beiden dunklen Rosse, die nun schnobern, wie eine Eisenmühle.
"Die haben mich ganz sschön durch die Gegend gessschleift", knattert es rauh und leise aus seinem Inneren, wobei der Arm und der knochige Finger sich erneut in die Höhe schrauben und erneut an die Schläfe pochen. "Sspinner." Dann schnalzt er energisch mit den Zügeln, abfahrbereit.
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Etwas überrascht wendet der Kapitän auf ein neues seinen Blick zu dem schweinförmigen Türschilde empor, dann die umliegende Hauswand entlang. Sicherlich ist es ein bunter Haufen an Gästen, aber sooo interessant kommt ihm dieses Gehöft mit all seinen Insassen nun auch wieder nicht vor - nicht einmal eingedenk der Dame, welche bislang nicht mehr als ein paar kurzweilige Gedankenspiele bei ihm ausgelöst hat und wohl schwerlich darüber hinauskommen wird. Wirklich interessant wäre ein Mitglied der Mannschaft. Fredo, Faramud... Pewatu wenigstens...
Die Porträtgalerie verschwimmt bei des Herrn Tellicherris abenteuerlicher Antwort. Neuerliches Verdutzen entert das narbendekorierte Antlitz. So waghalsig sieht der kleine Herr Schmerbauch doch gar nicht aus!
Bursch und Kutscher bekommt Kvalor nur noch recht am Rande mit, bis sein Blickwinkel eine Truhe erfasst. Beutegut, womöglich? Oder nicht eher Wechselwäsche?
GH
Der kurzleibige Angekommene hat die Hände über den runden Bauch gelegt, die sich in sachter Spannung an den Fingerspitzen berühren. Andächtig fühlt er in sich hinein, die Lider niedergesenkt und dankbar lächelnd. Das war gerade ein feiner Satz, den er gefunden hat. Den sollte er sich merken, wenn das Märchen seines Lebens irgendwann einmal in Schrift und Papier Gestalt annimmt. Umso wunderlicher wird es ihm, als sein Gegenüber nichts verlauten lässt, weder eine Frage noch einen Kommentar, an den man anknüpfen kann.
Herr Tellicherri lauscht einen Augenblick. Auch die Abendluft hört sich in ihrer Stille ganz herrlich und erfülllend an. Würden nur die Zugtiere nicht so dumpf durch die Nüstern husten und der Kutscher nicht so zischen. Alldieweil, aus lauter Stille nebst Nebengeräuschen wird kein Gespräch. Vielleicht muss er sich weiter erklären.
Sacht räuspert er sich, tippt etwas verlegen an den runden hohen Hut auf seinem Haupt. "Also", setzt er im selben feierlichen Tonfall an, mit weicher langsamer Stimme. "Ich sammle Abenteuer. Aber um genau zu sein, sind es nicht meine eigenen. Sammeln und aufbewahren kann man ja auch Dinge für andere Leute."
Der kleine Herr wiegt bedächtig den Kopf, wie er nun auf sein eigenes bisheriges Dasein schaut. "Ich zum Beispiel habe mein ganzes Leben lang Geld, Bilanzen und Lohnbücher für andere Leute gesammelt und aufbewahrt. Aber ich war nicht ihr Besitzer."
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Dem Kapitän geht eine Sturmlaterne auf, was ihn sein Auge weiten lässt. "Ah! Demnach seid Ihr so eine Art Geschichtenerzähler? Oder nein, wohl eher ein Chronist und Schriftsteller?" Ein fröhlich-freundliches Lächeln breitet sich auf seiner lückenhaften Zahnleiste aus. Solche Leute hat wohl jeder gern.
GH
Ein blechernes "Hussa" durchschneidet die Abendluft, die ganze Kutsche scheint zu zittern und zu beben. Wie mit ehernen Hufen beginnen die Rosse zu stampfen und sich in Bewegung zu setzen. "Abfahrt!" verkündet der Dunkle auf dem Bock, was eigentlich ganz unnötig ist, weil es doch jeder sehen kann.
Rasch nimmt der Wagen an Fahrt auf und rollt quietschend und ächzend die Straße in östlicher Richtung weiter. Ein klagendes Seufzen und Stöhnen scheint auch noch in der Luft zu liegen, als die Karosse sich außer Hörweite befindet.
Benko ergreift erneut die Truhe und nähert sich mit ihr dem immer noch plaudernden Ankömmling und dem alten Seefahrer, der die schwere Kiste neugierig zu beäugen scheint.
Da er der föhlichen Leutseligkeit auf dem Gesicht des rauhen Seefahrers ansichtig wird und dessen freundliches Interesse warm in seinem Inneren spürt, entspannen sich auch die Züge des kleinen Herrn, und er erwidert lebhaft: "Ja, das wären Titel, mit denen ich mich gerne schmücken würde. Schriftsteller und Chronist" - er schmeckt die Worte genießerisch auf seiner Zunge - "ein Beobachter, ein Zeitzeuge. Das wäre etwas Erhabenes!" spricht er mit entrücktem Lächeln.
Dann sammelt er sich wieder, und eine leichte Traurigkeit umflort seinen Blick. "Aber stattdessen habe ich nicht mit Büchern und Schriften gelebt, sondern ich war ein Buchhalter.
So etwas, wie ein Wärter in einem Wildpark oder einer Mengerie, der Tiere für hohe Herrschaften hält und hütet. Ich habe Bücher gehalten, sie jeden Morgen um acht aus dem Kassenschrank geholt und sie jeden Abend zur sechsten Stunde wieder darin eingeschlossen. Dazwischen habe ich sie beaufsichtigt. Das war meine heilige Pflicht. Doch wenn man das vierzig Jahre lang tut, macht es nicht länger glücklich." So sehr ist Herr Tellicherri in seine Lebensbilanz versunken, dass ihn das unheimlich anmutende Davonrattern der Kutsche gar nicht weiter erschrecken kann. Er bemerkt es kaum.
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Ganz im Gegensatz dazu durchaus sehr durch das Spektakel abgelenkt und einen unwillkürlichen Schritt rückwärts von dem Gefährt fortspringend, vermeint der Seemann zunächst, der kleine Kerl sei Buchhalter über ein herrschaftliches Tiergehege gewesen. Dann hätte jener zumindest gewusst, wofür all die Zahlen stehen und wie die Kreaturen dahinter aussehen, sich bewegen und was sie gern fressen.
Unfasslich, wie die Kalesche davorrast, als sei sie der Fliegende Bornländer! Da verliert man beim Nachschauen wahrlich wenig Zeit! Also tut der Kapitän selbiges, noch während er ein kein wenig mühsam zum Thema zurückfindet: "Ähm... Was für Bücher? Ich meine, in was für einem Geschäft?" Bestimmt etwas Edles wie Mobiliar, Teppiche oder teure Gewandungen!
GH
"Ja, das wäre aufregend gewesen", bestätigt der rundliche Herr lebhaft. "Da hätte ich mich mit jeder Zahl, mit jedem Stoff oder Holz aus weit entfernten Landen in eine fremde neue Welt hineinträumen können!"
Dass er lebhaft seine Worte mit Gesten ausschmücken möchte, bringt den schweren Folianten unter seinem Arm fast erneut ins Rutschen. So ist der Ankömmling gezwungen, sich kurz zu beugen, um sein Buch wieder in die rechte Haltung zu bringen.
Als er sich wieder aufrichtet, hat sich leichte Bekümmernis über sein Gesicht gelegt. "Das wäre auch ungefährlich gewesen, weil meine Ziffern mir dann nur von dem Geschick lebloser Dinge erzählt hätten." Er seufzt. "Doch meine Zahlen berichteten mir ständig von Menschen und ihren Schicksalen. Von Lebensgeschichten, die hinter den Beträgen, die ich verwaltete, nur erahnbar waren. Gleichsam wie hinter einer dicken Scheibe aus milchigem Glas."
Nun strafft er den kurzen Leib würdevoll, doch es ist kein Stolz auf seinen Zügen zu erkennen, als er vermeldet: "Vierzig Jahre lang war ich Lohnbuchhalter bei der Horaskaiserlich Privilegierten Nordmeer-Compagnie. Zuerst Dritter, dann Zweiter und schliesslich Erster Hauptlohnbuchhalter." Noch einmal fühlt er diese Positionen wie eine schwere Last auf seinen Schultern. Erst dann wird Herrn Tellicherri klar, dass dieses alles von ihm gegangen ist, wie die selige Frau Mamma, und er atmet erleichtert auf.
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So recht schlüssig wird sich der Seebär nicht, ob sein Gegenüber seine Gedanken erraten hat oder worauf sonst er sich mit seinen aufregend-ungefährlichen Worten beziehen mag. Dennoch dies ist nicht von Schaden, lernt man dadurch ja wenigstens weiteres über den Redner.
"Holla, das klingt doch beachtlich!" lobt der Kapitän entgegen der mangelnden Begeisterungskennzeichen des Foliantenjongleurs. Dann erst geht er auf jene ein: "Aber so recht erfüllt hat es Euch wohl nicht, will ich meinen?"
Aufgrund eines trockener werdenden Halses eilt sein Blick zur Türe und zurück. "Falls es Euch genehm ist, setzt Euch doch drinnen zu mir an den Tisch! Ich habe dort noch einen Rest Bieres, den ich nicht gern nutzlos verdunstet wüsste!"
Nanu, der Bursche steht ja auch noch da, als warte er auf ein Handgeld! Ach nein, der will wohl nur wissen, wohin mit der Truhe!
GH
"Nein", schüttelt der Buchträger den Kopf, während er sich langsam gen Wirtshaustür in Bewegung setzt. "Zum Schluss nicht mehr. Wenn das Leben schließlich zu einer endlosen Aneinanderreihung von im Grunde beliebigen Zahlen wird, mag einem das ein Gefühl einer erhabenen und unabänderlichen Ordnung geben. Alles kommt und vergeht. Aber man selbst hat keinen Teil an diesem Werden und Schwinden."
Der kleine Mann bleibt stehen und seufzt abermals. "Wann habe ich mir das letzte Mal ein Bier gegönnt! Ohne es zu merken, wird man mit jedem Tag ein wenig grauer und gelber, wie altes Papier. Und am Ende weiß man gar nicht mehr recht, dass es so etwas wie Bier gibt. Den Göttern sei Dank habt Ihr mich wieder daran erinnert!"
Und an ein Weiteres erinnert sich Herr Tellicherri. Sich umzudrehen und dem dienstfertigen Burschen zu sagen: "Ich bin Euch so dankbar, dass Ihr Euch um meine Truhe kümmert! Sagt aber auch, wenn sie zu schwer wird, dann tragen wir sie zusammen!"
Benko schüttelt sich, schüttelt auch das Haupt und macht sich auf den Weg, dem Redelustigen und dem alten Seekämpen zu folgen, als Ersterer plötzlich im Schritt innnehält und ihn wahrnimmt.
"Ach", erwidert der Bursche belustigt. "Ich habe schon Schwereres gewuppt, als dieses hier.
Und als reisender Handwerker bin ich es ja gewohnt, den Leuten eine Last abzunehmen."
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Es freut den Kapitän sichtlich, so geholfen zu haben. Ja, die Landleute sind schon ein eigenes Völkchen! Für Schreiberlinge gilt dies ohne Frage um so mehr - zumindest die verwaltenden, nicht die Verfasser irgendwelcher Geschichten.
In seiner speziellen Weise schreitet er dem Herrn Tellicherri nach, bis das Augenmerk neuerlich dem Bürschlein zukommt. "Brav!" raunt er anerkennend, um sich dann wieder dem Reisenden zuzuwenden: "Ihr seht schon; dies ist ein gutes Haus!" Dass morgen auch eine Feier zu erwarten sei, tut für einen Übernachtungsgast eher wenig zur Sache. Zudem ist Kvalor ohnehin etwas unsicher, wer denn nun wen heiratet.
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"Oh ja", pflichtet der dem Eingange Zustrebende seinem Begleiter bei. "Das habe ich auch gehört. Denn schließlich ist mir just dieser Gasthof empfohlen worden als Ziel meiner Reise.
Und wenn Ihr es bestätigt, glaube ich es umso lieber! Darf ich Euch als Dank für Eure Empfehlung die Tür aufhalten?" Es aussprechen und tun sind für den dann doch überraschend wendigen kleinen Herrn eins.
"Und sagt mir, lieber junger Herr", spricht er den auf dem Fuße folgenden Burschen an. "Wie kann ich Euch nur Eure Güte vergelten?"
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Kvalor schmunzelt nur ob der Art des Dankausdrückens. Natürlich darf er, der kleine Kerl! Aber ob er wohl jedem dankbar ist, der ihm irgend etwas Beliebiges aufschwatzt? Dass er den Knecht als Herrn betitelt, steigert nur des Seemanns aufkommenden Verdacht einer gewissen Weltfremdheit des Reisenden. Dabei sollte man doch auch in einer Verwaltung irgendeine Art von Lakaien annehmen dürfen, welche geringeren Standes als die Herrschaften Buchhalter sind und daher entsprechende Anrede erfahren. Wobei ein Pirat von solchen Dingen gewiss allzu wenig weiß. Möglicherweise herrscht dort ja ein ganz anderer Umgangston als man sich so vorstellt.
Mit solchen Überlegungen erfüllt, hüpft Kvalor in den Schankraum zurück.
GH
Ohne von den Gedanken des überholenden Seebären zu wissen, ist sich der kleine Kerl durchaus dessen bewusst, was er sagt. Hat sich der junge Bursch doch als einen reisenden Handwerker präsentiert und ist damit in Herrn Tellicherris Augen durchaus Person eines gewissen Standes. Respekt war ihm ein ganzes Leben lang ein fast so guter Begleiter, wie Frau Knedsen. Und mit der ist er auch, trotz all ihrer Bärbeissigkeit, wunderbar durchs Leben gekommen. Etwas vom Wichtigsten ist, zu wissen, was sich gebührt.
Deswegen neigt er auch achtungsvoll den Kopf, seitwärts an jene angelehnt die Tür aufhaltend, unter dem Arm den dicken Wälzer, während nun auch der Träger an ihm vorbei passiert.
Die Truhe über die Schwelle tragend, winkt der Bursch dankend ab, welches er freilich wegen der Inanspruchnahme seiner Arme nur mit dem Kopfe tun kann. "Schon gut", lässt er den freundlichen Herrn dabei wissen. "Trinkt ein Glas Bier auf mein Wohl und fühlt Euch willkommen! Das reicht mir als Dank!"
Einen kleinen Moment hält er inne, atmet aus und lauscht dem Rythmus in sich.
Weiter...
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Redaktion und Lektorat: Oliver H. Herde im Jahre 2018