Yshijas Abreise

von Antje Michael

Langsamen Schrittes geht die Tulamidin die Treppe hinab. Sie hat schwer zu heben, doch noch schwerer, viel schwerer als ihr Gepäck wiegen könnte, ist ihr ums Herz zumute.
Es ist so viel geschehen, seit sie in diesem Gasthaus eingekehrt ist. Ist es wirklich erst gestern gewesen, noch nicht mal einen ganzen Tag her? Ja, und ihr Leben hat sich von Grund auf geändert. Doch halt! Noch hat sich nichts geändert, oder nicht viel, aber alles deutet darauf hin, dass es bald schon so weit sein wird. Vielleicht sollte sie dann mit ihrer Schwester hierher zurückkehren und feiern und all jene dazu einladen, die ihr bei ihrer Suche nach Ajishy geholfen haben?
Derart in ihre Gedanken versunken, bemerkt sie erst, als sie die unterste Stufe der Treppe erreicht hat, wie leer es in der Zeit, in der sie gepackt hat, im Gastraum geworden ist. Ihre Traumschwester und Der-Ajishy-kennt werden draußen auf sie warten, doch sie hat, sie will, sie muss doch...!
Kurz entschlossen lässt sie ihre Taschen fallen und stürmt durch die Tür nach draußen. Durch die plötzliche Anstrengung heftig atmend sieht sie sich um, beißt sich enttäuscht auf die Lippen, als sie niemanden der Gesuchten erblickt, und ballt ihre Hände zu Fäusten. Sie hätte sich so gerne verabschiedet!
Langsamer kehrt sie in den Schankraum zurück, sammelt ihr Gepäck ein und setzt sich zu Gwydon an den Tisch. Rasch holt sie ein Blatt Papier hervor und blickt fragend auf seine Feder. Der Söldner reicht sie ihr, wortlos fragend. Sie nimmt sie mit ihrer linken Hand entgegen und beginnt zu schreiben, derweil sie ihre Rechte in Gwydons Händen birgt:
An Atreo, den Einhändigen, CAC, Bethana.
Wenn Du eines Tages zur See fährst, hüte Dich vor den Schiffen, die die Namen von Göttern oder Magiern tragen; sie könnten sonst sogar in ruhigem Hafenbecken sinken. Solltest Du die Wahl haben, benenne die Schiffe, auf denen Du Kapitän sein sollst, nach all den Frauen, die Du jemals geliebt hast.
Yshija.

Sie faltet das Blatt zusammen und legt es zu Gwydons geschriebenem Brief. Leise, sich räuspernd bricht sie das Schweigen. "Ich... kann deinen Brief bis zur nächsten Reiterstation mitnehmen."
Munter antwortet er ihr: "Damit du deine Schwester möglichst bald wiedersiehst?! Ja, das wäre sehr gut. Darf ich?" Fragend blickt er auf Yshijas Taschen; sie nickt. "Ich bezahle gerade noch meine Unterkunft."
Während der Söldner sich Yshijas Gepäck annimmt, steckt diese sich die beiden Briefe ein und begibt sich zu Tesden. Freundliche Worte und Wünsche werden getauscht, zwei Dukaten wechseln den Besitzer, dann wählt sie den Weg durch die Gehilfenkammer in den Stall, wo sie zärtlich flüsternd ihr bereits gesatteltes Pferd begrüßt und es nach draußen führt.
Auf dem Hof warten die Novadi und der Rondra-Geweihte bereits auf die Tulamidin, der Söldner tritt gerade hinzu. Yshija nimmt ihm ihr Gepäck ab und befestigt es am Sattel. Rasch tritt sie um die Ecke und findet dort ihren Umhang; er wird aufgerollt und ebenfalls am Sattel angebracht.
Ein bittender Blick in Richtung ihrer beiden Weggefährten wird von In'Saaria sofort verstanden.
"Komm, M'challih. Lassen wir die beiden ein wenig alleine! Die Zwölfe zum Gruße! - Wai'meha..." 'Beeil dich ein wenig!' will der folgende, kurze Blick wohl sagen, doch ob er Yshijas Sinne erreicht - wer würde das zu behaupten wagen?
Jetzt ist es also soweit: Der Abschied steht direkt bevor. Gwydon spürt einen dicken Kloß im Hals, und der Geliebten scheint es nicht besser zu ergehen. Wortlos - und da er im Moment ohnehin nicht der Sprache mächtig wäre - nimmt er sie in den Arm und versenkt sein Gesicht in ihren roten Locken. "Yshija", murmelt er leise, sehnsuchtsvoll.
Sie erwidert seine Umarmung. Sich die Nähe des anderen ein vorerst letztes Mal bewußt machend, stehen beide einige Sekunden lang eng umschlungen da.
Gleichzeitig lösen sie dann die um Halt suchende und Halt gewährende Umarmung und versinken in einem zärtlichen Kuss, der lange dauert, und doch nicht ewig währen kann.
Schweren Herzens lässt der Söldner Yshija schließlich los. Er zieht das Lederbeutelchen hervor, das er während ihrer Abwesenheit aus seinem Rucksack geholt hat, öffnet es und nimmt einen Ring heraus. Es ist ein Frauenring, ein einfacher, schmaler Goldreif mit einem winzigen Smaragdsplitter. An der Außenseite des Ringes sind feine Muster aus ineinandergeschlungenen Ranken eingraviert. Gwydon betrachtet den Ring, dann reicht er ihn der Tulamidin. "Er hat meiner Mutter gehört. Bitte... nimm ihn und" - er schluckt - "denk an mich." Der Söldner fasst noch einmal nach der Hand der Tänzerin. "Auf Wiedersehen, Yshija! Wenn die Zwölf es wollen, werde ich sie finden und ich werde dich finden!"
Der Tänzerin rinnt eine feine Träne die Wange hinunter, als sie den Ring entgegennimmt, ihn küsst und ihn dann an ihre rechte Hand steckt. "Wie könnte ich nicht an dich denken, Gwydon? SIE wird mich stets deiner erinnern, vergiss das nicht! - Mögen die guten Götter geben, daß wir einander wieder begegnen! Rahja schütze Dich!"
Ein letzter Kuss, fast nur ein Hauch auf Gwydons Wange, dann dreht die Tänzerin sich um, steigt auf ihr Pferd und folgt den beiden, die für die nächste Etappe ihre Weggefährten sein werden.


Ausschnittliste

Redaktion und Lektorat: OHH