Magier am Morgen

Autoren: Oliver H. Herde und andere

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Irgendwann - bis zum Morgen mögen es gewiss noch ein, zwei Stunden sein - heben sich die Lider des fraglos ältesten in dieser Nacht in diesem Hause Ruhenden. Allein, so ruhig ist er gar nicht. Es war doch etwas spät gestern. Die ungewohnt vielen Gespräche über Themen, denen man in der Studierstube nun einmal nicht so ohne weiteres begegnet, haben in Morlans geist ihre Spuren hinterlassen.
Und da ist noch etwas anderes, eine Melodie! Unablässig spielt sie sich in seinen geistigen Ohren ab und kehrt sogleich eilfertig wieder zum eigenen Anfang.
Wenigstens ist sie melancholisch genug, ihn nicht zum Aufstehen aufzufordern. Dennoch kann er nicht umhin, sich nach ihrem Ursprung zu fragen.
Dann endlich kommt dem im Halbschlaf befindlichen Magus das Bild der singenden und musizierenden Dame des Vorabends wieder in den Sinn. Das müsste wohl ihr zweites Stück sein, welches er bereits eben noch in Schlaf und Träumen vernommen hat und welches nun nicht enden will.
Es stimmt wohl doch, dass Morlan auch ein gewisses Maß an Musikalität in sich birgt. Vielleicht sollte er statt eines dritten Studiums in Kuslik doch lieber eine ganz neue Richtung einschlagen? Wenn man so eingefahren ist, macht das ja nur alt! Und bei allem unverminderten Interesse für die vertraute Materie dürstet es ihn doch zugleich nach etwas Abwechslung für seine müden Knochen.
Tanzen? Wie hat er dieses Talent in den letzten 30 Jahren vernachlässigt! Seine Knie werden es nicht mehr mitmachen - nicht ohne Nihilatio zumindest.
Auch die Stimme ist sicher nicht mehr so klar wie einst, aber in einem kleinen Chor fiele das bestimmt weniger auf, zumal ihm lustige Lieder sowieso viel mehr lägen als kunstvoll getragene. Man müsste also nur Gleichgesinnte auftreiben und sich vielleicht noch einen passenden Namen ausdenken. 'Die Weisen Greise' vielleicht? Aber wer seiner verknöcherten - und im Übrigen viel jüngeren - Kollegen würde sich dafür schon hergeben!
Nach einem Seufzer dreht sich Morlan ächzend auf die andere Seite und versucht, sich ein fröhliches Trinklied ins Gedächtnis zu rufen. Die Frage, ob er überhaupt eines kennt, verschwimmt nach einer Weile im schläfrigen Hinabsinken der Gedanken zurück ins Reich der Träume.

OB

So angestrengt hatte Arrano in die Dunkelheit gestarrt, dass sie sich für ihn in tanzende hellere Flecken aufzulösen begonnen hatte; nun aber mischt sich echte Helligkeit - kaum mehr als ein milchiges Grau, in dem sich Konturen abzuzeichnen beginnen - in dieses verwirrende Spiel. Zudem dringen Geräusche an sein Ohr: Scharren und Schaben von unten her, erste stapfende Schritte auf dem Korridor vor seiner Zimmertür und die Treppe hinab.
So kommt allmählich auch wieder Leben in den umfänglichen Körper des Magisters. Er seufzt einmal auf, tätschelt kurz den an ihn gerutschten Zauberstab, bevor er das Artefakt aufrecht an die Bettkante lehnt. Vorsichtig tastet er sich zu seinem Gepäck - viel kann er nicht sehen, aber er weiß, wo er zu suchen hat. Mit einer Hand gräbt er tief in der Tasche, immer darauf bedacht, leise zu sein, um die Schläfer nicht zu wecken.

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In Morlans Falle sind Arranos Bemühungen recht vergeblich. Mit dem ersten Lichte ist auch er erwacht und hat bis eben wechselweise die Zimmerdecke und die Wand neben sich angestarrt. Nun aber geht ein Räkeln durch den Körper, was seine Wachheit verdeutlichen mag.
Er wacht ja nie spät auf, aber was einem hier geboten wird, liegt schon hart an der Grenze zur Unverschämtheit. Oder doch eher jenseits davon. Peng, schon wieder! Dong! Man möchte meinen, man sei in einer Kaserne gelandet. Offenbar haben es direkt vor dem Fenster zwei waffenstarrende Streithähne aufeinander abgesehen.
Ein Grummeln, ein Schmatzen, dann hebt Morlan den Kopf und schaut sich im Zimmer um. Magister Wiehießernoch - der ältere junge Kollege jedenfalls - ist schon auf? Erstaunlich!

OB

Arrano scheint fündig geworden zu sein; vorsichtig zieht er seine Hand wieder aus den Tiefen seines Gepäcks hervor. Sie hält nun einen Beutel, ein leises Klimpern kann das aufmerksame Ohr daraus vernehmen. Der Beutel ist aus mehreren Stoffstreifen genäht, die im morgendlichen Dämmerlicht unterschiedlich hell und dunkel wirken.
Mit der rechten greift Arrano blind zu seinem Stab und zieht sich daran - ein Schnaufen mühsam unterdrückend - hinauf, bis er aufrecht steht. Während er den Beutel in der linken Hand prüfend wiegt, schweift sein Blick einmal mehr wie von selbst zu der Stelle an der Wand, wo er gestern abend die Zeichen entdeckte. Wieder tritt das versonnene Lächeln auf seine Züge; er packt den Stoffbeutel fester.
'Hoppla. Du hast recht.' Wie von einer plötzlichen Eingebung gepackt, schaut der Magister prüfend an sich hinunter. Er trägt tatsächlich noch immer seine Robe, hat sie gestern abend also nicht noch ausgezogen; dementsprechend sieht sie leicht zerknittert und derangiert aus. Arrano lässt seinen Stab los und streift die Schnur des Beutels über den linken kleinen Finger, um sodann mit beiden flachen Händen die Falten der Robe notdürftig glattzustreichen. Kurz fährt er sich noch einmal über den Haarkranz - viel an Frisur ist ihm nicht geblieben, was durcheinander hätte geraten können, so dass ein rascher Griff und ein halbherziges Fingerkämmen vollauf genügen.
Dann greift er wieder nach dem Zauberstab, der während der gesamten Prozedur mehr oder minder senkrecht stehen geblieben ist. Die linke Hand schließt sich wieder um den Beutel.

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Während für einen Magier ein stehenbleibender Stab nicht weiter bemerkenswert ist, vermag Morlan den detailreichen Faltenwurf in Arranos Gewandung gar nicht wahrzunehmen. Aber doch jene selbst!
Dass der Kollege bereits solche trägt, veranlasst den Greis, sogleich wieder in seine Lieblingsbeschärftigung zu verfallen, welche seinen Geist so hübsch in Form hält. Dabei gliedern sich drei Hauptmöglichkeiten in eine Vielzahl von Untervarianten auf:
Der Magus könnte sich bereits wieder bekleidet haben, noch vom Vorabend bekleidet sein, oder es liegt ein Informationsübermittlungsfehler vor und er ist gar nicht bekleidet.
Derweil Variante B vor allem die Frage aufwirft, ob in diesem Zustand geschlafen oder gewacht wurde, bietet C einen wundervoll unerschöpflichen Reichtum an Spekulationsspielraum. Neben der in Halbdunkel und Kurzsichtigkeit geborenen Täuschung könnte es sich auch um gewollte oder natürliche Illusion handeln. Besonders interessant, nur leider wenig wahrscheinlich, doch auch keinesfalls auszuschließen ist der Gedanke einer nichtmenschlichen Erscheinung. Wer hätte bereits bewiesen, dass Arrano nicht ein Dämon, ein Klabauter oder selbst eine Illusion ist!
Ein friedvolles Lächeln breitet sich über Morlans Antlitz aus.

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Arrano hat - so leise, wie er sich bislang verhalten hat - keine Veranlassung zu vermuten, dass der eine oder der andere Zimmergenosse bereits erwacht sei. Darum bleibt ihm auch verborgen, dass Morlan ihn betrachtet.
Der Magister unterdrückt ein Gähnen, kneift noch einmal müde die Augen zusammen, dann aber strafft er sich und fasst seinen Zauberstab fester. "Gehen wir, meine Gute", sagt er und bewegt sich so leise wie nur möglich in Richtung der Tür - vergebliche Liebesmüh, bedenkt man den Kampfeslärm, der von draußen unüberhörbar hineindringt.

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'Gesundheit!' möchte Morlan wünschen, als er den orkischen Kriegsruf durch die Fensterläden vernimmt, welche auch den einen oder anderen Lichtstrahl hereinlassen. Seine breitgefecherte Sprachkenntnis beinhaltet im wesentlichen lebende wie tote Sprachen der aventurischen Menschheit, zumeist überdies in der schriftlichen Theorie, nicht in gesprochener Praxis.
Derweil der eine Kollege bereits geht, regt sich im Bette des anderen bislang nichts. Welch ein gesegneter Schlaf! Vorausgesetzt, der Mann lebt noch. Und ebenso angenommen, dort liegt überhaupt jemand.
Aber was nun? Soll Morlan auch aufstehen und sich zum Frühstück begeben oder lieber noch etwas mit dem Kopfkissen kuscheln? Nur zu gut kann er Arranos weibliche Assoziation des Magierstabes nachvollziehen. Irgendwie muss man sich ja manchmal über das Alleinsein hinweghelfen.
Doch was ist dies? Ein aufgeregter Frauenruf zerreist die morgendliche... nein, Stille kann man dies nun doch nicht nennen.

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Grummelnde Geräusche sind aus dem Bett des jungen Adepten zu vernehmen. Einem kurzen Aufatmen durch die Nase - einem Schnarchen nicht ganz unähnlich - folgt ein halbherziges Umdrehen des schlanken Körpers mit dem Gesicht wieder einmal zur Wand.
Darauf folgt Stille. Reglos bleibt Traviano in seinem Bett liegen.

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"Wie bitte?" erkundigt sich Morlan unwillkürlich halblaut in Richtung des dritten Bettes. Dann jedoch erkennt er, das Vernommene war zwar Lebenszeichen, doch nicht unbedingt menschliche Sprache und keinesfalls an ihn gerichtet.
Wie auch immer, dieses lange Herumliegen, welches er sich seit seinem Aufbruch aus den heimischen Hallen des Morgens schon zwei oder drei Male erlaubt hat, ist ein höchst unbefriedigender Zustand. Mühsam richtet er sich im Bette auf und führt die bloßen Füße seitlich unter der Federdecke hervor.

OB

"Oh, auch Ihr seid bereits wach? Guten Morgen", wünscht Arrano seinem alten Collega in einem prononcierten Flüsterton. Zu einem weiteren Gespräch scheint er jedoch nicht aufgelegt. Kurz wirft er einen prüfenden Blick zu Travianos Bett. Als er sieht, dass der junge Adeptus sich zwar kurz geregt, dann aber einfach auf die andere Seite gedreht hat, breitet sich ein leichtes, beinahe väterlich zu nennendes Lächeln auf seinen Zügen aus. So leise wie möglich öffnet er die Tür - als der heftige Krach von unten heraufdringt, zieht er den Kopf ein, kneift die Augen zusammen und runzelt die Stirn - dann schlüpft er hinaus in den Flur, wobei er die Tür genau so geräuschlos wieder hinter sich schließt.

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"So scheint mir", haucht Morlan zur Antwort. "Euch ebenso." Nein, nicht das Scheinen sei gemeint, möchte der Greis einwenden und hebt bereits seinen Finger, doch zweifellos vermittelt die Hinausbewegung des anderen die rechte Botschaft: Es lohnt den Aufwand der Worte nicht, und der beste Zeitpunkt und Ort für einen längeren Vortrag liegen gewiss auch nicht vor.
Nach etwas umständlichem Herumgewippe landen die Zehen auf dem Holzboden neben dem Bett, Ballen und Fersen folgen. Der erste Griff des Alten gilt dem Stabe, ist jener doch schon lange auch Gehhilfe geworden. Dann erhebt Morlan sich und zieht sein annähernd weißes Nachthemd zurecht, bis es ihm wieder zu den Knöcheln hinabreicht.
Schließlich tappst der Alte zum Fenster hinüber, wobei er möglichst selten mit dem Stab aufzusetzen versucht. Dort angekommen schiebt den einen Laden weit genug auf, um hinausspähen zu können und nach der Lärmquelle zu suchen.
Dort, etwas rechts beim Brunnen sind Leute, welche man wohl für das Spektakel verantwortlich zeichnen kann. Soweit Morlan es mit unbewaffnetem Auge erkennen kann, wird dort gerauft. Wie morgendliche Waffenübungen sieht es nicht gerade aus. Aber was weiß er schon über das Gehabe von Söldnern!
Im Grunde ist er froh, wenn kein Metall mehr aufeinanderprallt und wendet sich wieder dem Bett und insbesondere seinen Gewändern zu. Den Laden hat er ein wenig offen gelassen.
Derweil das Nachthemd langen wollenen Untergewändern weicht, vertreibt sich Morlan die Zeit bereits mit morgendlichen Gedankenübungen: Ob nun Söldner oder nicht, kann die Prügelei dem Suff ebenso wie einer inhaltlichen Auseinandersetzung entsprungen sein. Doch wie der Magus darüber nachsinnt, wird ihm klar, er möchte sich das ausnahmsweise mal gar nicht so genau vorstellen.
Wo stecken denn wieder die Fußlappen...?
Ach, sie sind nur auf den Boden gefallen! Schnaufend wickelt Morlan seine schon etwas kühlen Füße damit ein. Sich so zu biegen, ist nicht mehr ganz einfach. Aber andererseits ist er auch wenigstens nicht mehr ganz so lang wie einst.
Nun noch die Robe übergestreift, dann den Gürtel mit den wichtigsten Utensilien umgelegt... Vorsichtshalber schaut sich Morlan noch einam gründlich um, ob er etwas vergessen hat. Kleidungsmäßig wohl nicht.
So beugt er sich über seine Kiste, öffnet sie und schaut hinein. Alles so, wie es sein soll. Der Knecht hat sie also nicht über Gebühr geschüttelt. Entsprechend genügt ein Handgriff, den gewünschten Folianten herauszubefördern. Jener wird unter den Arm geklemmt und die Kiste wieder verschlossen. Dann nimmt Morlan den Stab an sich und begibt sich zur Türe.
Nach dem vergewissernden Blick, niemanden auf dem Gang anzurempeln oder jemandem auch nur den Weg zu verstellen, tritt Morlan hinaus und schließt leise die Türe hinter sich. Gewiss, ein Erwachen des zurückbleibenden Zimmergenossen in ausgerechnet diesem Moment ist nicht sonderlich wahrscheinlich, aber man weiß ja nie.
In welcher Richtung ging es noch einmal hinunter? Wohl aus jener, wo es etwas heller wird und vereinzelte Stimmen und sonstige Geräusche kommen. Auf denn!
Kein Wunder, dass sich Morlan an dieses überaus kurze Gangstückchen gar nicht erinnern konnte! Und um die Ecke herum führt ja auch bereits die Treppe herab. Nun heißt es Obacht! Als erstes wird der Stab auf die nächstuntere Stufe abgesetzt, dann der gegenüberliegende Fuß und schließlich der andere.
Vielleicht hätte man den Folianten doch oben lassen sollen? Achwas, das wird schon gehen und dauert eben nur etwas länger!
Auf halber Höhe gönnt sich Morlan eine kurze Pause, wenn er auch nicht wirklich erschöpft ist. Vielmehr möchte er einen Rundumblick in den Schankraum erledigen. Nicht, dass er Bedeutsames erwarten würde!
Tatsächlich ist dem frühen Morgen entsprechend noch recht wenig los. Natürlich könnte man darüber mutmaßen, ob sich das restliche Volk hinter dem Hause und an den Fenstern versammelt hat, um die Rauferei mitanzusehen. Sowas soll ja für viele recht interessant sein, hört man. Sogar Stadien bauen sie dafür!
Aber er kommt schon wieder vom Thema ab! Wen also finden Morlans trübe Augen vor? Am Tresen wohl den Kollegen mit dem Wirte in wichtiger Angelegenheit, scheint es. Benachbart am Tische ein junges Paar, sowie schließlich einen aus unbekanntem Grund herumstehender Mensch mitten im Schankraum.
Somit verbleibt eine reichliche Auswahl an freien Sitzgelegenheiten. Zum Lesen wäre der Tisch gleich hier bei der Treppe gewiss am geeignetsten, was die Lichtverhältnisse angeht. Andererseits hat man dort entweder die Türe oder die Treppe oder den gesamten Schankraum im Rücken, was für Unruhe sorgen könnte. Vielleicht am besten ganz dort hinten? Sollte vom jungen Arrano - oder sonstwem - noch ein weiterführendes Gespräch gewünscht werden, wird man das schon merken.
Morlan setzt seinen Abstieg fort.
Schließlich ist der ebenerdige Boden des Schankraumes erreicht, und Morlan muss nicht mehr ständig nach unten schauen. Das Versteckspiel der Füße und Stufen unter der Robe hat es auch nicht gerade erleichtert. Vielleicht sollte man einen Zauber entwickeln, der das Gewand unten herum für ein Weilchen durchsichtig werden lässt?
Doch das hat Zeit. Erst einmal zum Tisch und frühstücken!
Irgend etwas saust hinter Morlan von links nach rechts vorüber. Wohl eher eine Bedienung als ein eiliger Gast oder gar ein Tier, von welchem andere Schrittgeräusche zu erwarten wären. Wie auch immer.
Die Hälfte des Wegs zum ausgesuchten Tisch hat Morlan nun hinter sich gebracht, dass er nah genug ist, erste Details zu bemerken. Da steht schon irgendwas herum. Hoffentlich nicht die Überreste von jemandem, der diesen Bereich bereits für sich belegt hat! Aber ein Seitenblick auf den Tisch bei der Türe lässt vermuten, dass es sich dort wie hier um Brot, Beläge und die Kerzen von gestern Abend handeln wird.
Da, von rechts, scheint ihn etwas zu überholen. Ah, die Bedienung! Selbst für eine junge Frau ist sie bemerkenswert schnellfüßig. Doch da sie erst den großen Tisch ansteuert, ist Morlan trotzdem zuerst an dem seinen. Gemächlich umrundet er ihn.
Doch noch während sich Morlan niedersetzt - sein Buch hat er zuvor auf den Tisch abgelegt - ist auch schon die Köchin an den Tisch herangetreten und bedenkt diesen wie bereits die anderen mit einer Kanne Tees. "Noch einen Wunsch?"
"Danke, nein."
Endlich sitzt er, derweil die Köchin wieder enteilt. Sein Blick auf den Folianten wird jedoch von den Gerüchen des Frühstücks angelockt. Sicher liest es sich auf leeren Magen nicht so gut. Andererseits kann man ja beides zugleich haben, wenn man vorsichtig genug ist. Und wer wäre vorsichtiger mit einer wertvollen alten Schrift als ein nicht gar so aber doch hinreichend alter Magus!
Schnell - für Morlans Verhältnisse - schneidet der Greis von Brot und Käse ab.
Als er sich eine Stulle grob zurechtgezimmert und davon einen ersten Bissen getan hat, beugt sich Morlan zu dem Folianten hinüber, zieht ihn mit der freien Hand etwas mehr an sich heran und schlägt ihn schmatzend und doch ehrfürchtig auf. Auf welcher Seite war er doch gleich stehengeblieben? Bedächtig blättert er nach und nach um.
Die Umwelt vergessend, gleitet Morlans Blick über die Seiten. Sorgsam fährt er Zeile um Zeile ab, ohne etwas zu überspringen oder zu wiederholen. Hin und wieder wird das Kauen unterbrochen, gelegentlich schüttelt Morlan auch den Kopf oder hebt die Brauen. "Sowas, sowas!" murmelt er vor sich hin.
Aber was ist nur heute mit den Buchstaben los!? Nicht nur weniger Scharf kommen sie Morlan vor, sondern insbesondere kleiner. Auf die Dauer ist die Lektüre so doch arg anstrengend. Und dazu noch diese Rechte, die ständig die Schnitte in den Weg hält, als wolle sie ihn auf irgend etwas aufmerksam machen! Durchsichtig gefiele sie ihm momentan mehr. Besser noch zudem linsenförmig wie... wie zum Beispiel...
"Ich Esel!" grummelt der Alte und wackelt mit dem Kopf. Endlich ist ihm aufgegangen, was seine Rechte ansonsten beim Lesen völlig zu Recht über Schriftstücke zu halten pflegt.
Das Brot wird beiseitegelegt, damit er mit beiden Händen in Ruhe an dem runden Beutelchen an seinem Gürtel nesteln kann.
Derweil er die Kugel aus ihrem Behältnis holt, schweift Morlans Blick auch einmal kurz durch den Schankraum. Blickt der junge Kollege gerade vom Tresen herüber? Nun bräuchte man schnell die Kugel, doch der Beutel ist doch etwas arg eng, seit ihn eine liebfeldische Waschküche in den Fängen hatte.
Jedenfalls kann es nicht schaden, dem jungen Manne freundlich zuzulächeln. Er war gestern doch sehr bewegt und ist es möglicherweise noch immer.

OB

Zwar erwidert Arrano das freundliche Lächeln des älteren Collega - vorsichtshalber mit einer grüßenden Handbewegung versehen, falls Morlans Augen nicht mehr in der Lage sind, Mienenspiel auf eine solche Entfernung wahrzunehmen - tritt aber nur an den nächsten Tisch, um sich dort eine Scheibe Brot zu greifen und ein Stück Käse daraufzulegen. Um noch eine Hand für das bevorstehende Öffnen der Tür freizuhaben, steckt er sich kurzerzahns die Brotscheibe in den Mund.
Gerade will er nach dem Türknauf greifen, da hört er hinter sich ein Röcheln und einen dumpfen Aufschlag. Verwirrt dreht er sich um, nicht bedenkend, dass er momentan einen alles andere als seriösen Anblick bietet.

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Ah, ein Winken. Zumindest ist Morlan also bemerkt worden. Aber reist der Kollege etwa bereits ab? Ebensogut kann er nach einer Waschgelegenheit suchen oder nach dem Abtritt. An sich beides keine schlechte Idee...
Doch das Niederplumpsen eines anderen Gastes zur Linken lässt auch diese Gedankenkette reißen und den verschwommenen Blick des Alten zur Quelle schwenken.
Endlich ist auch die Kugel befreit und wird sofort vor die Augen emporgehoben.
Ahja, ein Veteran mit einem alten Hirntrauma. Oder vielleicht hat sein buchstäblicher Niedergang gar nichts mit dem beschädigten Auge zu tun - wenn es sich nicht gar um eine Verkleidung handelt.
Wie auch immer, da kümmern sich bereits zwei Damen. Morlan hat also keinen Anlass, aufzustehen und hinzueilen. Heilmagie ist keines seiner Spezialgebiete. Aber es schadet nicht, das Geschehen noch ein wenig im Augenmerk zu behalten, falls der Patient von irgend etwas besessen ist oder dergleichen. Wobei... Auch Dämonologie gehört nicht zu Morlans besonderen Steckenpferden.
Mag es nun an den Heilkräften der Damen liegen oder dem Umstand, dass alles seine Zeit und auch ein Ende hat, geht eine Bewegung duch das Beobachtungsobjekt. Morlans vergrößertes Auge blinzelt ein paarmal. Die Sache scheint sich soeben selbst zu erledigen. Wie gut, dass er nicht mehr so jung ist, bei jedem kleinsten Anlass sofort aufzuspringen.
War er einmal so jung? Nicht, dass er sich dessen erinnern könnte.
Oh, ein Foliant über Echsenschriften! Andächtig blättert er um, die Kugel gleich vor dem Auge behaltend.
'Hrchrzk...? Schwierige Vokabel, aber was haben Goblins damit zu tun?' Morlan schüttelt naserümpfend sein Haupt und blickt dabei unwillkürlich auf. Da erkennt er, die Quelle der seine Übersetzungsmühen störenden Laute außerhalb des Folianten von irgendwo links her. Nicht die Leute um den eben noch Ohnmächtigen, sondern noch linkser.
Sich sogleich mit der Kugel behelfend, wendet der Greis seine steifen Knochen etwas seitwärts und erspäht ein offenes Fenster. Vielleicht noch jemand, der gefallen ist? Eine akute Sturzepedemie? Fallsucht?
Doch da erinnert sich Morlan, wer ihn heute zu wecken suchte, obgleich er doch bereits seit einem Weilchen bei vollem Bewußtsein im Bette lag. Wirklich, es kann sich bei dieser krakehlenden Person nur um einen Teilnehmer der Kampfübung auf der Rückseite des Hauses handeln - oder wohl vielmehr eine Teilnehmerin, wenn nicht die Stimmbänder oder ein ebenfalls hochempfindliches Körperteil getroffen wurden.
Nichts von näherem Belang für den Greis also. Daher nutzt er die Gelegenheit, seinen Kugelblick auf dem Rückweg zum vorliegenden Werke noch einmal durch den Raum schweifen zu lassen.
Da der Gestürzte buchstäblich wiederauferstanden ist, gibt es für Morlan keinen Grund, an diesem Tische mit Blick und Gedanken weiter zu verweilen. Auch sonst ist nichts Bemerkenswertes zu entdecken, allenfalls der Umstand, dass inzwischen auch der dritte und jüngste Magus dieser Nacht im Schankraum erschienen ist. Dass jener jedoch wie der zweite nicht des Greisen Gesellschaft sucht, mag letzterem eine ermüdende Diskussion über Magietheorie ersparen. Diese jungen Leute wissen ja selten, worauf es ankommt.
Also wendet sich Morlan wieder seinem Folianten zu. Beim Frühstück zu lesen, ist doch eine höchst angenehme Lebensart, wenn man keine Gesellschaft hat! Achja, Frühstück! Da er soeben umgeblättert hat, kann er die Linke zum halten des angebissenen Brotes verwenden.
Wo war er doch gleich stehengeblieben? Dort neben dem Krümel?
Nach einigen Zeilen blickt Morlan abermals auf. Was ist das für ein ständiges Türgeklappere!? Nanu, der junge - der ältere junge Kollege, um genau zu sein - ist schon wieder herinnen? Wie auch immer dessen Verwirrung geartet sein mag, sucht er seinen Halt beim Wirte.
Es mag wohl besser sein, bald weiterzureisen. Dies ist nicht der beste Ort für eine intensive Lektüre. Entsprechend klappt der Alte seinen Wälzer nicht ganz geräuschlos zu, legt die Kugel beiseite und widmet sich mit etwas mehr Aufmerksamkeit dem Frühstück.
Schließlich ist der letzte Schwung des Kiefers getan, und lediglich die Zunge fährt noch einmal säubernd über die Zähne und die weiten Zwischenräume. Morlan schaut nun etwas aufmerksamer umher als eben noch. Aufstehen?
Ja, der Tag dauert nicht ewig. Packen, anspannen, der Reiseweg... Auf, auf! Jedenfalls wüsste Morlan nicht, was ihn noch in diesem Hause halten sollte.
So klemmt er das Buch unter den Arm, nimmt den Stab an sich und stellt fest, dass angesichts der Kugel auf der Tischplatte eine andere Reihenfolge besser gewesen wäre. Eile mit Weile! Dass man das einem Greis noch sagen muss! Da spielt es keine große Rolle, wenn er es sich selbst sagt.
Also alles noch einmal zurück, zuerst die Kugel in den Beutel gestopft, dann wieder alles eingesammelt.
Es benötigt gewiss noch eine Stunde, bis Morlan all die notwendigen Formalitäten einer Abreise erledigt hat: Bezahlen, zusammenräumen, ein Gang zum Abort, wo sich rätselhafte Schriftzeichen als Lektüre anbieten...
Dann endlich sitzt der Greis dank der freundlichen Hilfe des Knechtes auf dem Kutschbock seines Wagens. Kurz blickt Morlan noch zu dem grün angelaufenen Kupferschild über der Türe hinauf, schließlich auf sein braves Zugtier. "Alsdann, es kann losgehen... Nun...? Achso, ja: HÜH!"
Und mit Ausruf dieser Bewegungsthesis setzt sich das klapperige Gefährt in Bewegung.


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Redaktion und Lektorat: OHH