Der Himmel über Engasal

von Oliver H. Herde

Der Himmel weinte in dieser Nacht.
Still und ohne erkennbare Regung hatte Atreo dem Berichte des Elfen gelauscht. Seine Augen aber zeugten von tiefen Gefühlswallungen. Schließlich blickte er auf und meinte er mit belegter Stimme: »So hat sie Ajishy noch immer nicht gefunden.«
»Du weißt, was dies bedeuten kann?«
Atreo erschrak. Sein Atem ging schwerer, sein Blick schweifte ins Leere ab, und seine Lippen formten lautlos eine Silbe.
»Nein«, beruhigte Feledrion seinen Freund, »das meinte ich nicht, auch wenn man es leider nicht ausschließen darf. Aber so oder so muss sie Aventurien verlassen haben. Zu viele suchen schon allzu lange nach ihr.«
Nach kurzem Zögern sprang Atreo auf, sein Stuhl flog durch das Zimmer, und das halbmondförmige Amulett um seinen Hals wirbelte wie tatendurstig empor.
»Wo willst du hin?« fragte Feledrion ernst. »Ins Güldenland? Über das Eherne Schwert? Aufs Südmeer hinaus? Du weißt doch gar nicht, wo du suchen sollst!«
Der Einhändige erstarrte, musterte Feledrion grimmig und trotzig. »Alles der Reihe nach«, brummte er.
»Und dann? Willst du die Sphären bereisen? Willst du die Feen besuchen? Ich kann dich nicht dorthin führen.«
Doch uneinsichtig funkelte Atreo seinen alten Freund an. »Deine älteren Geschwister könnten es, nicht wahr?«
Feledrion erwiderte nichts, schaute den Menschen nur streng an.
»Oder Kappra!«
»Auch den müsstest du erst finden.«
»In ohnmächtiger Wut erzitterte der Hüne. »Dann... Ich...«
»Verrenne dich nicht! Bedenke, dass du ein Mensch bist!«
Ermattet beugte sich Atreo vor, um sich auf die Tischplatte zu stützen. Seine Augen schwammen vor Feuchtigkeit. Er ballte die Faust. »Ich habe damals den Fehler begangen, einen Schwur nicht auszusprechen, doch dies bedeutet nicht, er wäre ohne Existenz.«
»Nun gut. Was aber versprichst du dir davon? Yshija liebt dich nicht, wenngleich sie um deinen Zustand ahnt. Mehr als Dankbarkeit kannst du dir nicht erbeuten, wenn du ihr Ajishy findest. Quäle dich nicht selbst! Vergiss die Schwestern!«
»Das kann ich nicht.«
Feledrion nickte, denn er erinnerte sich selbst nur zu gut an Yshijas Tränen. »Dann versuche, dich abzulenken!«
Atreos Rechte schnellte zu der Weinflasche auf dem Tische. »Damit?« rief er. »Meine Ablenkungen passen dir ja auch nicht!« Hasserfüllt starrte er auf das Etikett und knirschte: »Geschweige denn, dass sie helfen.« Voller Verzweiflung schleuderte er die Flasche fort, dass sie an einer Wand zerplatzte.
Der Elf blieb reglos und nutzte die Zeit, in der Atreo sich zu beruhigen schnaufend durchs Zimmer irrte, um eine Entscheidung zu treffen. So erklärte er, während der Einhändige noch unruhig seinen Stumpf knetete: »Also gut. Tu, was dir deine Intuition rät! Bestreite deine halsbrecherischen Wettkämpfe! Feiere deine Exzesse! Häufe Reichtümer an, bis dass dir die ersten Könige den Krieg erklären! Und bereise die Welten in deiner Suche. Wer weiß? Vielleicht findest du eines Tages, wonach du suchst. Wer kann das schon sagen? Ich werde dich bei allem unterstützen, so gut ich es vermag - auf meine Art, natürlich..."
Ein Beben der Rührung ging durch Atreos Brust. Schniefend wischte er sich Rotz und Tränen mit den Ärmeln fort. Ein schiefes Lächeln schob sich über sein Gesicht, dann holte er tief Luft. »Na schön, weiser Schwan, dann zeige, was du kannst! Ich habe morgen ein Rennen zu gewinnen!« Damit wandte er sich ab, ging hinaus in die klamme Nacht, nach seinen Pferden zu sehen.
Feledrion folgte nachdenklich, wenn auch einstweilen mit sich und Atreo zufrieden.
Der Himmel aber weinte noch.


Feledrion / Atreos Haus

© OHHerde 1998