Von den Elfen

Autoren: Günter Hölscher, Oliver H. Herde und andere

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Eine ganze Weile bleibt der Elf ungerührt; einzig seine Augen bewegen sich geringfügig, wenn draußen die Bewegung eines Vogels oder die sonstige Fixierung eines neuen Zieles dies hervorrufen - und natürlich zu gelegentlichem Blinzeln. Ansonsten können die sanften buchstäblichen wie sinnbildlichen Luftzüge im Schankraum die meditativ baumhafte Reglosigkeit kaum stören.
Erst, als er eine gewisse Gestalt sich im Blickwinkel nähern bemerkt, lenkt Feledrion sein Augenmerk wieder in das Gemach herein und lächelnd auf jenen Tischgefährten.

GH

"So, da bin ich wieder." Eigentlich ist diese Ankündigung gänzlich unnötig, denn ohne Frage hat der Elf mit seinen feinen Sinnen ihn ohnehin die ganze Zeit wahrgenommen. Aber die Höflichkeit hilft Herrn Tellicherri, seine Gesichtszüge wieder zu glätten. Und es gibt ja ohnehin keinen Grund für Ärger. Er hat alle Zeit der Welt an diesem Morgen. Und sind Ordnung und Abenteuer nicht ohnehin Widersprüche?
Er setzt sich geruhsam, legt das tuchumhüllte kleine Paket und den Holzlöffel vor sich. "Solltest du Besteck brauchen, wähl aus." Mit der Rechten weist er auf Bündel und Holzgerät.

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Ob der kleine Mensch wohl mit etwas nicht recht zufrieden ist? Dann bemüht er sich allerdings, sich nichts davon anmerken zu lassen. Dieses Bestreben akzeptierend, beschäftigt sich Feledrion nicht weiter damit, sondern blickt einstweilen auf das Dargebotene. Noch scheint es etwas verfrüht dafür, da es noch gar nichts zu verspeisen gibt. Eine Erwiderung kann jedoch nie schaden: "Danke."

GH

Der kleine Mensch hat keinen Grund, mit irgend etwas unzufrieden zu sein, wird ihm je mehr klarer, desto länger er wieder sitzt und sich einfach dem Morgen hingeben kann. Natürlich, wenn etwas Altes stirbt, wie sein vorheriges Leben mit seiner Ordnung, dann macht das auch wehmütig oder tut sogar weh. Aber das muss ja so sein. Eingezwängt sein im Alten und nicht wachsen zu dürfen, wäre weitaus schlimmer. Herr Tellicherri nickt, in sich hineinlächelnd.
"Bitte sehr", antwortet er seinem Gegenüber. "Vom Frühstück noch nichts in Sicht?"

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Eine sich zunehmend aufhellende Miene - gut. Auf die Frage hin wendet Feledrion sein Augenmerk Richtung Tresen, dann zum Nachbartische. "Vielleicht doch."

GH

"Es gibt also Hoffnung", lächelt der beleibte Herr. "Das ist gut. Damit übersteht man das Meiste."

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Feledrion schmunzelt still bei diesen Worten, welche wohl eine gewiss nicht ernst gemeinte Dramatik zu vermitteln suchen.

GH

Der Wirt ist am Nachbartisch, von den weiteren dienstbaren Geistern dieses gastlichen Hauses kann Herr Tellicherri niemanden entdecken. Doch wird es gewiss nicht mehr allzu lange dauern. Da er gerade ohnehin ans Essen denkt, kann er auch gleich sein elfisches Gegenüber fragen: "Womit bestreitest du im Alltag eigentlich deinen Lebensunterhalt? Übst du einen Beruf aus?"

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Ein Elf, der nach menschlichen Maßstäben einen Beruf bekleidet! Ein besonders belustigtes Schmunzeln breitet sich auf Feledrions schmalem Antlitz aus. Dabei entgeht ihm auch nicht jenes amüsante Detail: 'Im Alltag' mag zugleich 'Wenn du nicht eingeladen wirst' bedeuten.
"Die Welt gibt mir überall, was ich benötige", setzt er an, doch führt er weiter aus, um nicht im vorigen Sinne missverstanden zu werden: "Überall wachsen Früchte, gibt es jagdbares Wild." Natürlich gibt es knappere Zeiten, aber Klugheit hilft.

GH

Der rundliche Mann nickt. Der Elf verfügt offensichtlich über mehr Freiheiten, als ein Landstreicher oder ein Bauer, welche mit Repressalien zu rechnen haben, wenn sie sich auf eigene Hand das nehmen, was die Welt ihnen gibt, und von dem die Frucht- und Wildbesitzer doch meinen, es sei ihres. Man darf sich eben nicht erwischen lassen.
Herr Tellicherri legt das Kinn auf die Brust und überlegt. Eigentlich kann er Feledrion nur recht geben. Denn die Welt ist großzügig genug für alle. Aber andererseits gibt es diejenigen, die nicht genug zu haben meinen mit dem bloß Benötigten. Es ist gut, dass es Übereinkünfte gibt, die solcher Gier die Schranken setzen. Aber ungerecht, wenn dann diese Übereinkünfte und Gesetze diejenigen strafen, die der Hunger treibt. Und diejenigen schützen, die ihren Überfluss weder verbrauchen können, noch ihn teilen wollen. "Hmm..." meint er schließlich, den Kopf wieder hebend. "Bist du nie in Konflikt geraten mit denen, die meinen, dass Obst oder Wild ihnen gehören?"

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"Gewiss", schmunzelt der Elf ruhig. "Solche gibt es in den Landen der Menschen bisweilen recht zahlreich. Doch sie selbst haben sich Grenzen gesetzt mittels ihrer eigenen Regeln, welche den Elfen manches Recht einräumen, das sie ihren eigenen Leuten nicht gestatten - wohl, weil sie gelernt haben, dass die anderen Konsequenzen die schlimmeren sein könnten."
Tritt zum Schlusse seiner Rede nicht ein gewisser Funken in seinen Blick? Doch sollte dies so sein, ist er bereits im nächsten Moment verglüht, ohne die Freundlichkeit Feledrions zu trüben.

GH

Regeln, die den auf ihre Weise Wehrhaften mehr zugestehen, als den Wehrlosen. Herr Tellicherri runzelt kaum sichtbar die Stirne. Es hat ihn manchen Kampf mit Worten, Willen, Geduld und Zähigkeit mit seinen Dienstoberen gekostet, darauf hin zu wirken, dass in Zeiten, die für die Nordmeer-Compagnie mit größeren Risiken belastet waren, Schiffsjungen und Leichtmatrosen ihre ausbedungene Heuer mit gleichem Fug erhielten, wie Kapitäne und Steuerleute. So lange es einem selbst gut geht - ist es da nicht eine innere Pflicht, sich an ein gleiches Recht für alle zu halten?
Diese Gedanken lässt der ehemalige Buchhalter kommen und wieder gehen. Sein Angesicht glättet sich. Denn er will hören und nicht vorschnell urteilen. "Was zum Beispiel könnten die schlimmeren Konsequenzen sein?" fragt er Feldrion.

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Aufmerksamen Blickes hat Feledrion hinter dem Antlitz seines Gegenübers ein Missbehagen entdeckt, und es gibt die eine oder andere Idee in ihm, woher jenes kommen mag. Entsprechendes berücksichtigend muss die Antwort ausfallen.
Nach einem verlangsamten Blinzeln erwidert er: "Im Extremfall ein Krieg zwischen den Völkern. Mit den Zwergen gibt es ähnliche Regelungen bei den Menschen - solche, die wiederum auf jene zugepasst sind. Wenigstens in Bezug auf sie und uns haben die menschlichen Herrscher über die Jahrtausende gelernt, dass sich alle drei bei aller äußeren Ähnlichkeit sehr voneinander unterscheiden. Man kann vom Hasen nicht verlangen, er möge sich wie ein Eichhörnchen verhalten. Und - um auf deine Anfangsfrage zurückzukommen: Viele Arten kennen eine Revieraufteilung, aber sie behaupten sie gewöhnlich nur gegenüber ihresgleichen."

GH

Der kleine Herr nickt. Das selbe ist ihm aus der Seefahrt vertraut. Wenn auch nur vom sicheren und niemals schwankenden Platz eines Schreibtisches aus. Durchfahrts-, Anlandungs- und Umschlagsrechte können den Schiffen der einen Partei gewährt und denen einer anderen verweigert werden. Innerlich seufzt er.
"Es ist wohl diese Unterschiedlichkeit zwischen Hasen und Eichhörnchen, die ein gleiches Recht und Frieden für alle in dieser Welt erschweren. Eichhörnchen und Elstern, Füchse und Hasen werden sicher nie in dauerhafter Freundschaft leben. Doch sollte man von uns sich selbst erkennenden Wesen nicht erwarten können, dass uns unsere Vernunft über unsere Unterschiedlichkeit hinweg verbindet? Und dass sie die von dir genannten Konflikte unnötig macht?"

OHH

Diesmal ist es ein eher mitleidiges Schmunzeln, welches Feledrion seinem Gastgeber schenkt. "Wer entscheidet, wessen Vernunft genügt und welche die jeweils ausschlaggebende ist? Natürlich gibt es viele Verbindungen zwischen den zweibeinigen sprechenden Arten. Aber nehmen wir die Menschen als Beispiel. Sind sie nicht ebenfalls unterschiedlich zueinander? Gibt es nicht verschiedene Völker und Königreiche? Und gliedern sich diese nicht wieder in Städte und Siedlungen auf? Und streitet sich im Dorf nicht der Schultheiß mit dem Bauern und die Frau mit dem Manne und die Kinder untereinander?
Es liegt an jedem Einzelnen, als wie wichtig und unverzichtbar er seine Bedürfnisse erachtet - und ob er mehr sein Eigen nennen will, als er jemals verwenden kann."

GH

"Genau da bin ich mit dir einer Meinung", pflichtet der sonst gemütliche Mann seinem Gegenüber mit einer gewissen Leidenschaft bei, die im leichten Erheben seiner Hände sichtbar wird. "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Damit fängt es an. Wie du es im Beispiel nennst - allzu oft benehmen wir uns Unseresgleichen gegenüber wie streitende Kinder. Wie sollten wir da gegenüber anderen Völkern, wie dem deinen, Frieden und Freundschaft halten können? Über die Verhältnisse zwischen Elfen, Zwergen und Menschen weiß ich leider im Allgemeinen viel zu wenig, um mir darüber ein Urteil anmaßen zu können. Aber..." Herrn Tellicheris Handflächen senken sich auf die Tischplatte mit einem Geräusch, das ihn in seiner Lautstärke für einen Lidschlag selbst erschreckt.
"Verzeih, die Heftigkeit", fährt er angefasst und gedämpft fort, wobei er den Elfen ein wenig fassungslos anblickt, "aber es bekümmert mich zutiefst, wie sich schon im alltäglichen Zusammenleben unter uns Menschen immer wieder diese Urkräfte von Zorn und Gier und Durchsetzungswillen, Gewalt in Worten oder Taten auswirken. Ganz wie du sagst. Und manchmal stelle ich mir die Frage, ob Vernunft, Friedenswille und Verwöhnungsbereitschaft im Widerstreit mit diesen zerstörenden Mächten überhaupt eine Möglichkeit haben, dauerhaft zu bestehen. Wenn es schon Einzelnen immer wieder schwer fällt, ihre Bedürfnisse im Zaum zu halten."

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Ein nunmehr beruhigendes Schmunzeln breitet sich aus. "So du furcht um deine Art hast, musst du dich nicht sorgen. Sie besteht schon lange genug, um solche Bedenken zu zerstreuen." Für einen Moment überlegt Feledrion, ob die Zahl der Generationen mit Elfen und Zwergen wohl vergleichbar wäre.
"Zudem", verwirft er diesen Gedanken ob seiner momentanen Unlösbarkeit, gibt es andere, welchen es ähnlich geht, da sie in diesem Punkte Ähnlichkeiten haben - und wohl mehr als dies." Gewiss wird der kleine Mensch davon gehört haben; man muss es ihm nicht unter die Nase reiben.

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"Ich habe keine Furcht um meine Art", verwirft der Silberlockige die Vermutung des Elfen. "Mein Haar ist grau, und ob ich das Ende fürchte, spielt bei dem guten Leben, das ich gehabt habe, wohl keine Rolle."
Mit einem Mal liegt Müdigkeit in seiner Stimme. "Nachkommen hinterlasse ich keine, um deren Zukunft ich mich sorgen müsste. Dass die Menschheit sich selber das Ende bereitet, glaube ich nicht. Das hat sie in ihrer langen und oft traurigen Geschichte nicht vermocht. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass es eine höhere Gnade geben mag. Doch was hilft das oder kann trösten, wenn wir selbst nicht weiterkommen und reifer werden? Das ist es, was mich grämt - und der unnötige Tod vieler, die ihn aufgrund menschlicher Maßlosigkeit in jüngeren Jahren als meinen sehen müssen."

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Im Grunde wiederholt der Mensch Feledrions Aussagen, von seiner Anspielung auf überderische Mächte einmal abgesehen. Daher nickt der Elf lediglich.
Interessanter ist die persönliche Aussage dabei. Auch er hat keine Kinder. Aber anders als bei dem Elfen ist bei ihm wohl auch nicht mehr damit zu rechnen. Verständlich, wenn ihn dies bedrückt. Faszinierend, dass dieses Thema nach so kurzer Zeit bereits wieder durch jemanden an diesen Tisch gebracht wird.
Gewiss möchte er irgendeine Form der Fortsetzung. "Bist du der Ansicht, es müsse etwas geben, was dies für die Zukunft ändern kann?"

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Einen Moment sitzt Herr Tellicherri in sich gekehrt, dann blickt er den Elfen mit klaren Augen an. Er nickt. "Den Beschluss, Ernst zu machen und den ersten Schritt zu gehen.
In den Märchenbüchern der Menschen enden viele Geschichten mit einer Zukunft, in der alle glücklich und zufrieden waren, weil ein guter König oder eine gute Königin den Thron bestieg. Nur leider verraten sie uns nicht, wie diese weisen Herrscher das Glück Aller zu Wege brachten. Eine einzige Geschichte hat mich dahingehend überzeugt. Und es ist zugleich die Kürzeste von allen.
Sie handelt von einem Kaiser, der an einem Morgen seinen Dienern verkündete, er wolle heute ausziehen, um seine Feinde zu vernichten. Am Abend sah man ihn zusammen mit diesen Feinden essen und scherzen.
'Wolltest du nicht deine Feinde vernichten?' fragten die Diener den Kaiser.
'Ich habe sie vernichtet', antwortete dieser. 'Ich habe sie zu meinen Freunden gemacht.' "

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Des Elfen erste Vermutung auf die vermisste Klärung der Art und Weise kluger Herrscher spekuliert auf deren geringe Einflussnahme auf das Wirken ihrer Untertanen und der Nachbarreiche. Des Gastgebers Lösung setzt anders an, mag aber zumindest nach außen hin sehr ähnlichen Schluss kommen.
Feledrion lächelt. "Ein weiser Kaiser? Ist es eine tatsächlich geschehene Geschichte?" Möglicherweise wäre Rohal dem Weisen solches zuzutrauen. Über jenen wüsste der Älteste gewiss weit mehr als Feledrion zu sagen.

GH

"Ich glaube", lächelt der kleine Mann nun seinerseits, "es ist eine tatsächlich mögliche Geschichte. Mit der Möglichkeit für alle, die sie hören, solch weise Kaiser und Kaiserinnen im eigenen kleinen Reich zu werden."

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"Ahja", schmunzelt nun Feledrion wieder amüsiert. Es handelt sich also eher um ein Gleichnnis oder vielmehr eine Lehrgeschichte. Dazu gibt es wenig Fruchtbares zu sagen, folglich nickt er nur anerkennend.

GH

"Da wir gerade davon sprechen", fragt der gemütliche Mann den Elfen, "welche Formen des organisierten Zusammenlebens in der Gemeinschaft gibt es in deinem Volk? Gibt es so etwas wie Leitungspersonen, die sich um die inneren und äußeren Angelegenheiten eurer Gemeinschaften kümmern?"

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Während der Worte wandert des Elfen linke Braue empor. Organisiert? Leitungspersonen? Das klingt so... vorausberechnend, so unfrei, so staatlich - so menschlich!
Aber dann muss Feledrion doch wieder schmunzeln. Die Vorstellung ist zu sonderbar und die Art des Fragens allzu unbedarft und damit liebenswert. Andererseits führt die zweite Frage schon eher entfernt zu den elfischen Verhältnissen.
"Nun, je nach Anlass oder den notwendigen Kenntnissen gibt es solche, welche sich besser auskennen oder um ihrer weisen Meinung geachteter sind als andere. Niemand würde sich eine Entscheidung in einer Sache erlauben, in der er andere um ihre Ansicht fragen kann.
Nach außen hin mag es bisweilen sinnvoll sein, einen Sprecher zu bestimmen, der jedoch nicht seine persönliche Stellung vertritt, sondern die aller. Da ist es natürlich einfacher, wenn er nicht allein steht."

GH

"Das scheint mir weise zu sein", lächelt Herr Telicherri. "Rat und Wegweisung im Bedarfsfall. So bleiben alle in der Gemeinschaft selbst verantwortlich. Niemand ist ausgeschlossen und niemand kann sich in seiner Macht oder Ohnmacht zurücklehnen." Er richtet sich etwas mehr auf, gerade als befolge er seine eigenen Worte.
"Doch ich nehme an, dafür darf die Gruppe, in der man lebt, nicht allzu groß sein, und man muss einander gut kennen. Die Ordnungen unter denen Menschen dürften ihren Anlass darin haben, dass wir meist viele sind, die auf engem Raum miteinander leben müssen."

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"Ganz recht; die Menschen leben oft zu dicht aneinander", bestätigt Feledrion. "Doch in den Weilern und auf eizelnen Gehöften kann man dies schwerlich behaupten. Dennoch wünschen oder zumindest akzeptieren sie auch dort stets einen klaren Anführer innerhalb ihrer kleinen Gruppe und zusätzlich einen Herrscher in der Ferne. Insbesondere letzterer kann doch gewöhnlich gar nicht beurteilen, was für sie gut sei."

GH

"Das Letzte wage ich kaum zu beurteilen", antwortet der kleingewachsene Stadtbewohner, "denn zum einen kenne ich die Verhältnisse auf den Weilern und Höfen zu schlecht aus eigenem Anschauen, zum anderen sind sie, nach allem, was ich gehört habe, auch so unterschiedlich, wie die Menschen selbst. Die Menschen aus dem 'Thorwal' genannten Gebiet im Norden, die ich getroffen habe, sagen, sie beschlössen alles Wichtige gemeinsam und duldeten Anführer nur in den Dingen, in denen es unumgänglich ist, dass eine Einzelne oder ein Einzelner bestimmt. In den Gefilden des Mittelreiches soll es dagegen Dörfer geben, die direkt unter der Knute ihres jeweiligen Herrn stehen, und in denen der Schulze nichts anderes als der verlängerte Arm des Barons ist. Und in anderen Flecken sollen die Bauern und Handwerker ein solches Selbstbewusstsein haben, dass der jeweilige Herrscher klug beraten ist, sie in ihrem Eigenen schalten walten zu lassen, wie sie es für richtig halten. Es hängt also abermals von der Verständigkeit, Unverständigkeit, Schwäche oder Stärke der jeweilig Beteiligten ab, wie es in den unterschiedlichen Gegenden aussieht. Und darüber hinaus vom Freiheitsvermögen der einzelnen Menschen und von ihrer Gemeinschaftsfähigkeit. Manche haben Unterwerfung und Dienst und andere Freiheit und Selbständigkeit zu ihrer Maxime erhoben."

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Richtig; die Menschen sind so unterschiedlich, dass dies wohl einen Teil von Feledrions Faszination hervorruft. Aber auch die Elfen sind kein einheitliches Volk, nicht einmal die des Waldes, auch wenn die Rundohren dies so oft vorauszusetzen scheinen. Mit einem Nicken bestätigt Feledrion auch die letzten Ausführungen. Sie widersprechen den eigenen nicht wirklich.
Worauf aber der kleine Kerl hinauswollen mag, droht dieses Fazit zu verdrängen, also tritt Feledrion gedanklich wieder zu dem, was er selbst gesagt hat. "Aber haben nicht die Thorwaler ihren obersten Hetmann und die anderen Menschenreiche ihre Könige und Kaiser, die über alle ihre Gesetze verhängen?"

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"Gewiss", pflichtet Herr Tellicherri dem Fragenden bei. "Doch der jeweilige Herrscher ist, wenn sein Herrschaftsbereich sehr groß ist, oft sehr weit weg. Und weil seine Untertanen in diesem Fall sehr zahlreich sein können, ist es ihm unmöglich, alle Rechtsgeschäfte selbst wahrnehmen zu können. Deswegen kann es neben dem allgemeinen Recht, das für alle gilt, in den einzelnen Provinzen seines Reiches in bestimmten Fällen lokale Abweichungen in den geltenden Gesetzen geben. Und dazu unterschiedliche Setzungen für etwa Adelige, Bürger oder Bauern. Und zu guter Letzt", holt der kleine Mann ob seiner langen Rede Atem, "ist eine Rechtsverordnung nichts anderes als eine Ansammlung geschriebener Buchstaben auf einem Stück Schreibmaterial. Sie bedarf der Auslegung, etwa eines Richters, im Streitfalle. Jedes Urteil, das ein solcher spricht, hängt also zu einem gewissen Teil auch an seinem menschlichen Ermessen. Ich habe von einem Fall gehört, bei dem ein Hungernder, der auf einem, Markt ein Brot genommen hatte, von einem unerbittichen Richter zu Zwangsarbeit in den Bergwerken verurteilt wurde. Während ein anderer Richter ihn möglicherweise wegen Mundraub mit einer geringfügigen Buße, ja mit einer Ersatzleistung oder auch nur einer Vermahnung hätte davonkommen lassen."

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Nach dem Empfinden des Elfen widerspricht auch das Nachfolgende keineswegs seinen geäußerten Vorbehalten: Ferne Menschen herrschen - und zwar schlecht. "Das kommt mir sehr willkürlich vor", erklärt er seinen Unmut über die geschilderten Rechtszustände bei den Menschen.

GH

"Alles in einem Menschleben ist willkürlich, will mir scheinen", bestätigt Herr Tellicherri mit einem Nicken und einem gleichzeitigen Öffnen seiner Hände. "Es ist bedingt, da das Leben unser Art zu kurz zu sein scheint, um die ewigen Ordnungen hinter den Dingen mit letzter Sicherheit zu ergründen. Selbst das, was die Göttergläubigen als ewige Offenbarungen ansehen, bleibt daran gebunden, wie sie mit ihren schwankenden Sinnen und Auffassungen heilige Texte, Träume, Visionen, überlieferte Lehren begreifen und in ihre Gegenwart übertragen.
Und nimm die Gefühlsäußerungen mit hinzu, die jedes menschliche Urteilen bewusst oder unbewusst begleiten. Liebe, Hass, Zorn oder Angst - sind willkürlich und beeinflussen doch, ohne dass wir es von vorneherein verhindern können, unser Urteilen."
Der kleine Mann räuspert sich und fährt fort: "Ich glaube, weise ist, die Bedingteit aller Auffassungen und der jeweiligen Zeit zu sehen. Vor dem scheinbar unwillkürlichen, unanfechtbaren, absoluten Urteilen, das meint, es gäbe nur die eine Wahrheit der Gedanken und des Verstandes, ist mir dagegen Angst. Es vergisst so leicht die eigene Fehlbarkeit und das Menschliche. Ein guter Richter sollte wohl angesichts dessen vor allem demütig sein."

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Gewiss, das kurze Leben, die Fixierung auf Götter... Gefühle tragen Elfen allerdings auch in sich, wenn sie sich jedoch wohl weniger davon beherrschen lassen. Zur Wandelbarkeit von Erkenntnissen nickt Feledrion; sie ist ihm keineswegs fremd.
"Demut würde ich dies nicht genannt haben, dennoch gebe ich dir recht. Niemand sollte sich seiner selbst allzu sicher sein."
Seine Brauen ziehen sich ein wenig zusammen, weiß er doch nicht auf Anhieb weiter. Allzu verschlungen ist das Gewirr menschlicher Regelungen und Sitten, und zudem noch überall verschieden, als dass er sich selbst nach all den Jahren über alles hätte volle Klarheit beschaffen können. Stets mag es hilfreich sein, sich das eigene Unvermögen einzugestehen: Für seinesgleichen sind die Menschen oftmals schwer zu fassen.
Doch schon hat ihm die gewonnene Pause einen neuen Gedanken geschenkt: "Warum ist es nur ein Richter?"

GH

"Es muss durchaus nicht nur ein Richter sein", erklärt der der Mann im Morgenmantel, "auf dem Lande ist es wohl meist so, weil viele Gegenden dünn bevölkert sind und der Rechtsstreitigkeiten nicht all zu viele. Der Weg zum Gericht ist oft lang. Oder der Weg für den Landesherrn, sollte er selbst über Land reisen, um Recht zu sprechen. Und es ist ja auch durchaus gut, wenn die Dofbewohner nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit zu einem amtlich bestellten Richter laufen können, sondern genötigt sind, ihre Angelegenheiten unter sich zu regeln. Wie ich gehört habe, kann in minderen Streitfällen durchaus der Dorfälteste oder die Dorfältesten solche Funktion übernehmen.
Oft geht es ja darum, jemand Drittes mit einer unbefangenen und unparteiischen Meinung urteilen zu lassen. Da kann es von Vorteil sein, wenn der Schlichter eine einzige lebenserfahrene Person ist, mit einem Vermögen, gut zuzuhören. Wo zwei oder mehrere entscheiden müssen, kann es leichter zu Versuchen kommen, diese gegeneinander auszuspielen.
Bei größeren und schwerwiegenden Rechtsfällen, etwa bei Verbrechen, ist es in den Städten durchaus gewöhnlich, dass sich mehrere unparteiische Personen mit dem Geschehenen befassen und auch gemeinsam das Urteil abgeben. Ebenso gibt es für die vom Rechtsfall Betroffenen die Möglichkeit, das ergangene Urteil bei einem höheren Gericht zu überklagen."

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Des Elfen Stirne hat sich in Falten gelegt, indem zuerst die linke Braue emporgewandert ist, um alsbald von der anderen Gesellschaft zu bekommen. So viele Jahre der Beobachtung, und dennoch scheint Feledrion die Menschen in so vielem noch nicht umfassend kennengelernt zu haben! Wie schwer es bisweilen ist, sie zu verstehen!
"Warum muss es überhaupt ein speziell ernannter Richter sein statt aller gerade anwesenden? Denn wenn es so sei, dass die Menschen ihre eigenen Interessen in eine Schlichtung mit einbringen, so hast du dies auch bereits für solche Richter angedeutet."

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"Hmm", macht Herr Tellicherri zum wiederholten Male, während er die Worte des Elfen kurz bedenkt. Dann legt sich seine Stirn in Falten.
"Das mag sein, und es ist von Übel, wenn eine solche Voreingenommenheit eines Einzelnen die Findung eines unabhängigen Urteils erschwert, zu der die geschriebenen Gesetze ja gerade eine Hilfe geben wollen. Dennoch mag ich mir nicht vorstellen, zu welchen Konsequenzen die Voreingenommenheit womöglich einer ganzen Menschenmenge führen kann, gerade Personen gegenüber, die man schnell verdächtigt, Außenseitern oder Fremden. Da kann es rasch geschehen, dass etliche meinen, das Recht ohne ein Verfahren in eigene Hände zu nehmen und kurzen Prozess mit dem vermeintlichen Übeltäter oder der Übeltaterin machen zu können." Weiter möchte er sich dieses Geschehen eigentlich nicht ausmalen.
"Da ist es mir lieber, wenn es eine von allen respektierte und bestätigte Person gibt, oder auch mehrere, die sich der Sache annehmen müssen. Vielleicht auch im genannten Fall nur dafür, dass Zeit gewonnen wird und alle Aufgebrachten oder Voreingenommenen die Möglichkeit bekommen, ein wenig die erhitzten Gemüter abzukühlen."

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Traurig, aber wahr, was der Mensch über seinesgleichen zu befürchten weiß. Die meisten haben zu wenig Geduld und zu wenig Unvoreingenommenheit gegenüber allem und jedem.
Dann aber hellt sich das Antlitz des Elfen in unerwarteter Erkenntnis auf. "Nun verstehe ich: Es geht dabei um eine Verzögerung!" Anerkennend nickt er. Das mag angesichts des misslichen Unvermögens der Kurzlebigen und Desinteressierten eine tatsächlich hilfreiche Notlösung sein.

GH

"Ja", nickt der Mann in Morgenrock und Kappe mit einem Schmuzeln und blitzenden Augen. "Um eine Verzögerung. Genau wie bei unserem Frühstück. Denk, wie viele kluge Gedanken uns während des Wartens gekommen sind. Wobei sich mir die Frage stellt: Sollen wir noch ein Weilchen weiter warten oder ist es Zeit für mich, zur nächsten Instanz draußen am Brunnen zu gehen und mein Äußeres für den Tag und das Morgenmahl zu richten?"

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Abermals ist es allein die linke Braue, welche in den Höhen nach irgend etwas zu suchen scheint - möglicherweise nach der Bedeutung des Wortes 'Instanz'.
"Ganz, wie es für dich richtig ist", erwidert der Elf freundlich. Er hat Zeit, wie zumeist.

GH

"Ja dann", lächelt der Mann in seinen besten Jahren den Elfen an, "dann werde ich mich frühstücksfein machen. Fang ruhig schon an, sollten die Eier kommen. Es wäre ja schade um sie, wenn sie kalt werden."
Damit erhebt er sich, nickt dem Tischgenossen noch einmal freundlich zu, und ist schon auf dem Weg zu seiner Truhe. Denn dort hat er ja sein Handtuch wieder hinein gelegt.

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Abermals nickt der Elf, diesmal vergnüglich ob seiner Beobachtung des freundlichen und für seine Art klugen Menschen ebenso wie eigener Gedanken zu seinen letzten Worten. Gewiss werden Feledrion die Eier bei jeder Wärme, notfalls auch kalt schmecken, solange er sich nicht daran verbrennt oder die Zuge daran festfriert.


Ausschnittliste / ehemalige Gäste / Lageplan / Feledrion

Redaktion und Lektorat: Oliver H. Herde im Jahre 2019