Vom Zauber der Welt

Autoren: Günter Hölscher, Oliver H. Herde und andere

GH

"Der Dank geht gleichermaßen an dich", antwortet Herr Tellicherri dem Elfen. "Das Leben hat mich wahrhaft gut behandelt. Doch schöne Augenblicke mit anderen wirklich zu teilen, war eine seltene Freude darin. Von solchen Momenten lebe ich an einsamen Tagen, wenn das innere Auge die Erinnerungen wachrufen kann."
Er räuspert sich und lehnt sich dabei ein wenig zurück. "Du hast sicherlich eine große Familie?"

OHH

Wieder zögert Feledrion mit einer Antwort. "Groß im Vergleich wozu? Zudem fragt sich, wen man mitzählen möchte. Denn auch die frühesten Vorfahren und deren Nachkommen mögen noch als Familie betrachtet werden.
Wenn ich aber den engsten Kreis werte, so habe ich sechs Geschwister von zwei Schwestern und ihren beiden gemeinsamen Gefährten. Eigentlich ist es also für jeden von uns eine Mischung aus Vollgeschwistern, Halbgeschwistern und Vettern."
Dies mag vielleicht bereits genügen, also belässt der Elf es vorerst dabei, um seinem Gegenüber die Entscheidung zum weiteren Fortgang zu überlassen.

GH

Der Mann in seinen besten Jahren nickt zu den Ausführungen seines Tischgenossen. Im Vergleich zu mancher Familie bei Hafenarbeitern oder Seeleuten sind sechs Geschwister nicht besonders viele. Denkt er an sein eigenes Aufwachsen, allein mit der Frau Mama, ist es eine stattliche Anzahl.
"Würdest du sagen, ihr seid eine glückliche Familie?"

OHH

Er stellt seltsame Fragen, der Mensch - aber immerhin stellt er welche! Auch gibt es im Grunde keine falschen Fragen; manchmal fehlt nur das Verständnis einer Sache, um wirklich nützliche Fragen stellen zu können. Dann muss man sich mit vielen Fragen an die Kenntnis heranführen. Die hauptsächliche Herausforderung des Gefragten ist dabei die gleiche wie die des Fragestellers: Geduld. Für Feledrion eine leichte Übung.
"Glücklich in Bezug worauf? Wir sind zufrieden mit dem, was wir sind und tun, falls du das meinst. Und wir stehen zusammen, wenn dies nötig ist." Gleich, wo sie gerade sind.

GH

"Dann seid ihr offensichtlïch glücklicher als etliche Menschen, welche von Eifersucht und Besitzdenken geplagt werden", bilanziert der ehemalige Buchhalter. "Ich bin froh, das zu hören."

OHH

"Gewiss." Man hätte diese Bestätigung auch in Gedanken behalten können, aber der Elf hatte andererseits das Gefühl, mit mehr als nur einem Nicken reagieren zu sollen. Immerhin ist es ein sehr leise und beiläufig ausgesprochenes Wort ohne den Unterton der tieferen Bedeutung, welche ihm durchaus zukommt. Die Menschen. Warum vergleichen sie sich mit anderen? Es ist eine der Fragen, die Feledrion in all den Jahrzehnten nicht befriedigend hat klären können. Dieser hier scheint anders zu sein. "Dies spricht für dich." Es ist ein sehr anerkennender Ton herauszuhören. "So nehme ich an, es verhält sich bei dir und den Deinen ähnlich."

GH

"So groß ist die Schar der Meinen leider nicht", antwortet Herr Tellicherri nach einer kurzen nachdenklichen Stille. "Ich bin allein mit meiner Mutter aufgewachsen. Meine Eltern waren sehr verschieden, nach allem, was ich weiß. Mein abenteuerlicher Vater suchte stets nach Freiheit und wollte wissen, was sich hinter dem Horizont befand. Meine Mamma wünschte sich einen festen Platz im Strom der Zeit und ein beständiges Heim." Der kleine Mann schaut versonnen und mit ein wenig glänzenden Augen ins Irgendwo.
"Eigentlich haben die Beiden sich damit wohl auf wunderbare Weise ergänzt, aber dennoch muss irgendetwas zwischen ihnen gefehlt haben. Vielleicht der letzte Grundton in der Harmonie - sicher weißt du, was ich meine. Deswegen hat bei Pappa der Freiheitswunsch überhandgenommen und bei Mamma die Sehnsucht nach Sicherheit, und danach, mich, ihren Sohn, zu beschützen. So wurde ich seit Frühestem von allen Abenteuern ferngehalten - und das Reich der Zahlen und der Geschäftsbücher wurde zu dem Platz, den Mamma mir zugedacht hatte. Wohl weil sie glaubte, dass ich dort nicht leicht verlorengehen könnte." Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht.
"Woran sie nicht gedacht hat, war, dass auch Bilanzbücher von Abenteuern erzählen können, liest man sie recht. Und dass hinter jeder Zahl eine Geschichte steht. Was mich an ihnen interessiert hat, war nie das Vergleichende und Abgrenzende, sondern das, was verbindet."

OHH

So genau scheint der kleine Mensch nicht verstanden zu haben, was Feledrion als ähnlich vermutete. Dennoch sind die weiteren Ausführungen sehr aufschlussreich - bis sie in Bereiche abtreiben, welche für den Elfen allzu fremd sind, um wirklich viel damit anfangen zu können. "Ich weiß nicht recht, worum es bei solchen Büchern geht", gesteht er schließlich. Ob er es überhaupt wissen will, bezweifelt er eigentlich, doch man sollte stets freundliches Interesse erwidern, solange sich dies vertreten lässt.

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"Es geht in ihnen - vereinfacht gesagt - um das Ordnunghalten und Vergleichen", erklärt der Bücherfreund seinem Gegenüber. "Nützliche Fähigkeiten, wenn man ein ruhiges und gesichertes Leben führen will. Aber leider auch das, was dem Besitzdenken und der Eifersucht bei den Menschen so leicht den Anlass gibt." Er öffnet mit einem leichten Schmunzeln die auf dem Tisch liegenden Hände. "Ich darf wohl sagen, dass ich das mit dem Ordnung halten kann, weil ich vierzig Jahre lang mein Brot damit verdient habe. Aber die Menschen, die ich bei diesen Geschäften traf, haben mich eigentlich immer mehr interessiert, als die Geschäfte selbst. Ihre Unterschiedlichkeit. Das, was sie einzigartig macht.
Um auf deine Vermutung zurückzukommen - ich glaube, da bin ich ähnlich. Wie meinen Herrn Pappa lockt es mich, zum Horizont zu segeln. Und nicht, Grenzen oder Besitztümer zu bewachen."

OHH

Wie Bücher jemandem Sicherheit geben sollen, vermag der Elf nicht nachzuvollziehen. Möglicherweise nach Art der Mauersteine gestapelt? Das sähe den Menschen ähnlich, und bei manchem Magier sieht es ja beinahe so aus, wenn sogar alle Wände hinter den schweren Regalen verborgen bleiben. Als Wurfgeschosse eignen sie sich wohl eher weniger, aber vielleicht ja von den Zinnen hinab auf irgendwelche Angreifer. Keine schöne Vorstellung.
Ordnung und Geschäfte - wie mag beides zusammenhängen? Doch hier gibt es einen Aspekt, der den Menschen mit Feledrion zu verbinden scheint: die Neugier und Hoffnung, andere kennenzulernen und vielleicht gar zu verstehen.
"Wo warst du bereits?" scheint eine naheliegende Frage nach dessen letzten Bemerkungen.

GH

Der ehemalige Buchhalter kann nicht anders, als auf die Frage des Elfen hin ein wenig zu schmunzeln. "Dies ist meine erste größere Reise. Mehr als meine Heimatstadt und ihre Umgebung habe ich in meinem bisherigen Leben nicht gesehen." Seine lebhaft blitzenden Augen scheinen nicht recht zu einer solch recht trostlos wirkenden Aussage zu passen. "Aber denk - je begrenzter der eigene Horizont ist, desto leichter ist es, ihn zu überschreiten. Bisher habe ich Menschen aus allen möglichen Teilen der Welt an dem Platz getroffen, an dem ich arbeitete. Sie kamen dorthin, um Geschäfte zu machen. Jetzt komme ich zu ihnen, um Abenteuer zu erleben."

OHH

Man könnte nun überlegen, ob die Ähnlichkeit zum Vater folglich erst spät auftrat oder lediglich so lange durch etwas unterdrückt wurde. Doch es ist nicht an Feledrion, einem ihm letztlich noch völlig Fremden in Belangen zu widersprechen, welche jener gewiss besser überschaut.
Statt dessen lächelt er. "So wünsche ich dir viel Erfolg und Erfahrungen in deinem Sinne. Womit möchtest du beginnen?" Wobei er das ja anscheinend bereits mit dem Eber getan hat.

GH

"Nachdem ich so lange Zeit meines Lebens in einem mir vorgegebenen und selbstgewählten engen Raum gelebt habe, möchte ich die Freiheit kennenlernen und das grenzenlose Meer bereisen", führt Herr Tellicherri aus, das Lächeln des Elfen erwidernd. "Das kann die salzige See im Westen sein, an der meine Heimatstadt liegt. Das kann das große Sandmeer im Süden sein, die Wüste, die auch mein Vater bereiste. Auf einem Wüstenschiff. Das kann - in meinen kühnsten Träumen - das Luftmeer sein, auf einem fliegenden Teppich oder auf einem Hexenbesen. Vielleicht findest du, ich träume. Aber ich finde, man sollte mit seinen Träumen anfangen, und dann sehen, was sich aus ihnen machen lässt."

OHH

Nach kurzer Überlegung erwidert Feledrion: "Wunschträume sind gewiss nützlich, solange man sich von ihnen nicht beherrschen lässt und die Gegenwart aus dem Blickfeld verliert. Da es bei dir derer drei sind, mag es helfen, sie nach ihrer Erreichbarkeit zu ordnen und sich entsprechend umzusehen. Möglicherweise hast du den ersten Schritt bereits getan." Zumindest ist das Meer näher als die Wüste, wohingegen an magisches Fluggerät zu gelangen die größte Herausforderung darstellen dürfte.

GH

"Ja", nickt der Morgenrockträger dankbar zu den Worten des Elfen. "Das habe ich in der Tat. Sonst säßen wir hier nicht gemeinsam am Tisch. Dieser mein Besuch hier ist sozusagen die Mutter aller meiner Abenteuer, sollten die guten Mächte es erlauben, dass ich noch weitere erlebe." Er schlägt die Hände mit einer Spur Andacht und noch mehr Unternehmungslust zusammen.
"Und du hast recht darin, dass man das Ganze ordnen sollte, damit etwas daraus wird. Ich habe schon hin und wieder überlegt, dass sich die Fahrt über das Salzmeer mit der zum Sandmeer vereinigen lassen könnte. Wenn ich die Karten recht gelesen habe, so zweigt südlich der Stadt Methumis, wohin man zu Schiff gelangen kann, eine Passstraße ab, über die Berge, in Richtung der Khom. Natürlich will dies alles gründlich durchdacht und geplant sein. Noch bin ich in der Phase des Träumens."

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Es ist also wie erwartet, auch wenn Feledrion die genauen Wege des Südens kaum kennt: Das erste Ziel ist das Meer, über welches der Mensch das zweite erreichen will. Jenseits der Wüste mag dann sogar ein fliegender Teppich zu finden sein. Ein zufriedenes Nicken des Elfen ist die Antwort, welche auch eine Billigung der letzten Worte beinhaltet.
Da es nichts zu erwidern gibt, bleibt ihm danach etwas Zeit, die Gedanken fließen zu lassen. Etwas fehlt noch - nicht unbedingt wichtig, jedoch bietet es sich nun an. "Ich bin übrigens Felerion." Der andere könnte 'Dom' heißen, da der Wirt ihn so nannte, aber der Elf weiß längst, wie gern die Menschen allerlei Anreden den Familiennamen statt der Rufnamen voransetzen.

GH

Der kleine Mann im Morgenrock fühlt einen Augenblick die Verlegenheit in sich aufsteigen. Es entspricht weder dem guten Ton, noch seiner Gewohnheit, dass er vergaß, sich vorzustellen. Einmal kurz muss er schlucken, doch dann geht ihm auf, dass er sich hier nicht im Seelander befindet, sondern auf seiner ersten abenteuerlichen Reise. Und wie soll man Außergewöhnliches erleben, wenn man sich stets verhält, wie gewöhnlich?
Herr Tellicherri legt beide Hände auf sein Herz und beugt kurz vor seinem Gegenüber das Haupt. "Abraxas ist mein Name, und ich bin sehr erfreut, dich getroffen zu haben, Feledrion."
Wieder in bequemerer Haltung fährt er fort: "Du hast einen klangvollen Namen. Trägt er in der Sprache deines Volkes eine Bedeutung?"

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Hinter dem Lächeln des Elfen verbirgt sich die erwiderte Freude des Kennenlernens ebenso wie die Erwägung, auf die Frage wörtlich nehmend mit einer schlichten Bestätigung zu antworten, was jedoch wenig zielführend erscheint. Als drittes ist die Überlegung zur Gegenfrage aufgeworfen. Doch eines nach dem anderen.
"Gewiss. Eine wörliche Übersetzung würde wohl nicht recht weiterhelfen und bräuchte lange Erläuterungen, aber es stecken die inhaltlichen Bedeutungselemente der Luft und des Tänzers darin."
Abraxas also - und nicht Dom.

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Ein freundliches leises Lachen kommt dem Elfen entgegen. "Dann wärst du wohl der rechte Begleiter für meine Reise durch das Meer der Lüfte. Bis ich ein passendes Fluggerät gefunden habe, bist du aber auch sonst willkommen bei mir. Sollte dich dein Weg einmal in die Stadt Bethana führen, steht mein Heim dir offen." Wie spannend wäre es, im neuen Haus auch neue Menschen - nein, Elfen gar - begrüßen zu dürfen!

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Gewiss, ein Fluggerät würde Abraxas brauchen, denn einen Menschen könnte Feledrion nicht tragen.
"Bethana..." Ein nicken des Elfen bezeugt, er wisse, wo diese Stadt liegt. "Wie findet man dich oder dein Heim dort?" Zwar verliert er die Orientierung auch im Straßengewirr nicht so leicht, aber etwas noch Ungesehenes in einer Stadt zu finden, setzt eine sehr genaue Beschreibung voraus.

GH

"Tja", antwortet der gemütliche Mann aus Bethana mit einem konzentrierten Blick und umeinanderkreisenden Daumen, "Bethana ist nach meinem Dafürhalten recht übersichtlich. Doch leider liegt mein neues Heim an einem der am wenigsten übersichtlichen Plätze der Stadt. Im Norden liegt das Viertel Engardion, wo die meisten unserer Künstler leben. Südöstlich davon gelegen befindet sich das Gebiet um den großen Efferdtempel mit dem wohlklingenden Namen Sakristal.
Genau dort, wo Engardion an Sakristal angrenzt, gibt es ein kleines Quartier mit sehr alten Häusern und so verwinkelten Gässlein, dass man sich trotz der geringen Größe beinahe darin verlaufen kann. Und dort mittendrin liegt mein freundliches Häuschen, das du, wenn du erstmal dort bist, am gelben Verputz und dunklen Fachwerk leicht erkennen kannst."
Er kratzt sich den Kopf. "Du kannst es dir allerdings einfacher machen, und direkt zum Efferdtempel gehen, zu dem man aufgrund seiner Größe und seiner Kuppel leicht von überall hinfindet. Direkt nördlich von ihm auf Sichtweite, am Ende des Parks, liegt, neben der Brauerei, Terbos Bierhaus. Der Wirt kennt mich und kann seinen Burschen Tjoke nach mir schicken. Von dort aus geht man nicht länger als das Zehntel eines Stundenglases zu mir - ich hole dich dann ab."

OHH

Was für das Verständnis der Wegbeschreibung wichtung ist, fällt dem Elfen nicht ganz leicht zu erkennen, zumal es auf einmal derer zwei werden. Ist gelber Verputz selten? Darauf hat er nie recht geachtet, aber es scheint doch recht viele Gelbtöne zu geben. Demnach mögen ein Tempel und eine Brauerei als weniger angenehme Zwischenziele vielleicht tatsächlich der klügere Rat sein. Einstweilen nickt er. Man wird sehen, wann es dazu kommt.

GH

Feledrions Nicken ermutigt den Heimbesitzer, noch einige Worte hinzuzulegen. "Solltest du dennoch auf eigene Faust suchen wollen" - in einer fremden Stadt kann das Erkunden von manch einem ja auch als Vergnügen aufgefasst werden - "so überquerst du hinter dem Bierhaus einfach die größere Straße und gehst geradeaus weiter in die anschließende kleinere Gasse. Dort wirst du das Lärmen einer Schmiede hören, an der du vorbeigehst, bis du zu einer Kreuzung kommst, wo du dich links hältst und bald den Geruch von firschgebackenem Brot und Kuchen wahrnimmst. Er führt dich zu einer Bäckerei, die an einem kleinen Platz mit einem Brunnen liegt. Hinter dem Brunnen gehst du halb rechts in das schmale Gässlein, das 'Krähwinkel' genannt wird. Es gibt aber kein Schild - doch du wirst merken, dass es in der Tat in einem Winkel endet, in dem noch drei Häuser stehen. In dem mittleren wohnen meine Bücher und ich. Das Dach ist etwas windschief und die grünen Fensterläden sind ein wenig klapprig. Außerdem habe ich mir vorgenommen, wenn es bald Sommer wird, Blumen vor den Fenstern zu pflanzen."
Herrn Tellicherri wird warm um's Herz bei der Beschreibung seiner Wohnstatt. Wie gemütlich es dort ist - und erst recht wird, wenn er seinen ersten Gast beherbergt.

OHH

Mehr Beschreibungen müssen nicht unbedingt die Suche erleichtern, da es mehr Gebäude gibt, die es sich zu merken gilt. Menschenhäuser, die Feledrion selten besonders eingehend betrachtet hat. Aber die Vorstellung des letztendlichen Zielobjektes ist nun etwas genauer geworden. Der Weg dorthin mag laut sein. "Dies klingt recht friedvoll für eine Stadt."

GH

"In der Tat", nickt Herr Tellicherri, "so mag ich leben. Mit einem kleinen Hafen des Friedens, mitten in dem wogenden Sandmeer der Zeit." Seine Augen leuchten warm. "Wobei die Bücher schon aufregend sind, wenngleich auf eine angenehme Weise.
Wo lebst du, wenn du nicht gerade auf der Wanderung bist?" wendet er sich an den reisenden Elfen.

OHH

Wohl eher mitten in einem Steinmeer, findet Feledrion, da Sanduhren üblicherweise nicht zu den Dingen seines Gesichtskreises gehören. Dennoch wogt es in den Städten ja mehr als genug.
"Ich wurde geboren und lebe immer wieder bei meiner Sippe in den Wäldern von Sala Mandra - dir vermutlich besser bekannt als die Salamandersteine."

GH

"Ja", antwortet der Mann im grünen Morgenrock eifrig. "Dieses Gebirge ist mir natürlich von der Karte her bekannt. Wengleich ich natürlich noch nie dort war." Ein wenig Traurigkeit mag in diesem letzen Satz mitklingen, doch wird sie sogleich von neuem Interesse davongetragen: "Der Name, den es in deiner Sprache trägt, ist insofern interessant für meine Ohren, weil ich vermute, dass Sala Mandra womöglich etwas anderes meint, als den feuerbeständigen Lurch, der in der Menschensprache 'Salamander' genannt wird." Fragend blickt er den Elfen an.

OHH

Karten zu lesen, ist dem Elfen ebenfalls altvertraut - allerdings gewöhnlich eher solche, die jeweils ein bald zu begehendes Gelände abbilden.
"Ganz recht." Dabei könnte es bleiben, dann jedoch folgt etwas später die von dem Menschen gewiss erhoffte erklärende Antwort: "Mandra ist die Kraft, über welche wir bereits sprachen. Sala hingegen bezeichnet den Ort ebenso wie die dort lebende Gemeinschaft, welche jene Kraft in sich bergen."

GH

"Ah", macht der Mann in den besten Jahren, während er genau hinhört und innerlich sortiert. "Die Wälder von Sala Mandra wären also, wörtlich übersetzt, 'Wälder des Ortes und der Gemeinschaft der Kraft', richtig?
Und umgekehrt gab man wahrscheinlich dem Tier Salamander seinen Namen, weil man es als zaubermächtig ansieht, da von ihm gesagt wird, dass es nicht verbrennen kann." Die letztere Schlussfolgerung dient mehr seinem eigenen lautem Denken, denn sicher weiss der Angehörige der Gemeinschaft der Kraft bedeutend mehr über solche Dinge, als Herr Tellicherri.

OHH

"Der Seelenkraft, um genauer zu sein", ergänzt Feledrion. Bei aller Wörtlichkeit fehlt noch ein wenig von den inneren Schwingungen, welche man im Elfischen nun einmal mehr wahrnimmt als in den Sprachen der Menschen.
"Da es sich bei 'Salamander' um eine menschengemachte Bezeichnung handelt, vermag ich darüber bestenfalls zu spekulieren." Solches möchte er nicht ohne direkte Aufforderung tun, fühlt er sich doch auch in keiner Weise dazu berufen.

GH

"Ja", antwortet der Silberhaarige mit einem Schmunzeln, "mehr kann ich als Unkundiger ja auch nicht tun.
Aber was ich bei Weitem interessanter finde, ist Folgendes: Wir Menschen definieren unsere Zusammengehörigkeit sehr oft über Verwandtschaftsbeziehungen oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis, der ja im äußersten Sinne auch eine Form von Verwandtschaft darstellt. Familienbande in engerer oder weiterer Hinsicht, könnte man sagen. Ist es bei euch dagegen eher die Seelenkraft, welche die Verbundenheit zwischen euch begründet?"

OHH

Nun schmunzelt der um so Silberhaarigere wieder ein wenig. "Sie ist es auch, aber nicht unbedingt eher, denn natürlich bedeutet es auch bei uns etwas, mit wem du verwandt und mit wem du aufgewachsen bist. Es gibt Sippen, Dörfer, Landstriche und Elfenvölker. In der grundsätzlichen Struktur mag es jener der Menschen ähneln. Wir sind jedoch nicht so viele und leben nicht so eng gedrängt wie ihr vor allem hier in diesem Lande."
In Anbetracht dieser kleinen thematischen Abweichung zieht Feledrion die Brauen ein wenig zusammen. Da die Frage beantwortet ist, darf die Rede an dieser Stelle schließen und die Stirne sich wieder glätten.

GH

"Welch ein Segen, wenn man Platz um sich haben darf!" pflichtet der Rundliche seinem elfischen Gegenüber bei. "Ich habe nie die beneidet, die zusammengepfercht in einem engen Schiffsbauch Wochen oder gar Monate miteinander verbringen müssen. Oder die, die dicht gedrängt in einer Schreibstube sitzen." In der Erinnerung daran zieht sich dieses Mal auch die Stirn des kleinen Mannes zusammen. Zu seinem Glück wich diese Enge später dem Luxus einer eigenen kleinen Kammer im Handelskontor.
"Wie groß sind eure Siedlungen in den Wäldern von Sala Mandra? Und wie sehen eure Häuser aus?" fragt er, wobei seine Augen warm von Wissbegier leuchten.

OHH

Enge oder vielmehr ihre Bewegtung ist offenkundig Ansichtssache. Dass Menschen sie besser ertragen als Elfen, ist keine neue Erkenntnis. Feledrion genügt der Gedanke an Schiffsbäuche und Schreibstuben auch ohne darin allzu lange verbracht zu haben, um ihn sogleich wieder loswerden zu wollen. Die Fragen bieten hierzu reichlich Hilfestellung.
"Unsere Siedlungen sind sehr groß im Sinne der Weitläufigkeit. Ganz anders als eure Städte mit ihren schmalen Gassen und Haus an Haus. Wenn du die Kopfzahl der Bewohner meinst, entsprechen sie wohl meist eher einem eurer kleinen Weiler. Die Waldelfen wohnen vor allem mit den Bäumen", schließt er mit der Beantwortung auch der zweiten Frage ab.

GH

"Das heißt, wenn ich es mir richtig vorstelle", überlegt der kleine Herr und sieht sich vor seinem inneren Auge in einer weitläufigen waldigen Landshaft, "dann bemerkt man es unter Umständen gar nicht, dass man auf seiner Wanderung in eine eurer Siedlungen hineinspaziert? Es gibt keine sichtbaren Straßen oder Begrenzungen, wie Tore, Schlagbäume oder Wachtposten? Das klingt wahrhaftig nach einem Leben in Freiheit." Er lächelt in sich hinein.
"Und gleich noch eine Frage - die Waldelfen, sagst du, wohnen mit den Bäumen. Das hört sich so an, als seien die Bäume so etwas, wie Familienmitglieder. Wie drückt sich dieses besondere Verhältnis aus?"

OHH

Natürlich gibt es Trampelpfade, welche das ungeübte Auge wohl für Wildwechsel halten würde. Es gibt keine Gelegenheit, dies zu ergänzen; der kleine Mensch hat noch ganz andere Fragen. Jene mögen auch für beide Seiten interessanter sein.
Feledrionschmunzelt erneut. "Nicht eben Familienmitglieder, aber es sind vertraute Wesen, mit denen wir leben, vielleicht am ehesten mit manchem eurer Haustieren vergleichbar. Nicht jenen, welche ihr melkt oder schlachtet, sondern eher solchen, die ihr als Gefährten anseht. Bisweilen kann die Melodie eines Baumes sogar Gefahren anzeigen. Wir nehmen dies wahr, als schlüge bei euch ein Hund an."

GH

Einen Augenblick sitzt der mit der Farbe des Sommerwaldes bekleidete Morgenrockträger andächtig, um sich dies alles besser vorstellen zu können. Er hört die Bäume singen, während er sich selbst durch den windgepeitschten Park in Engardion gehen sieht, die Kappe mit der einen Hand auf dem Kopf festhaltend, die Ledertasche mit der anderen an sich pressend. Ein Umweg zwar, doch einer, der mit gesunder Bewegung und frischer Salzluft gefüllt ist. Wenn man den ganzen Tag sitzt, ist es eine Wohltat, sich durchpusten zu lassen. Und das herbstliche Sturmlied der Bäume ist ein Konzert, das in nichts denen des Bardentreffens nachsteht.
Herr Tellicherri lächelt und wendet die Augen wieder seinem Gegenüber zu. "Ich nehme an, dieses ist eine Melodie, die nur diejenigen vernehmen, die die Kraft in sich tragen und in der Weise deines Volkes zu hören und singen vermögen?"

OHH

Zur Abwechslung mal wieder beide Brauen hebend, erwidert der Elf: "Ich muss gestehen, darüber nie so genau nachgedacht zu haben. Eher dächte ich, dass eine Verbundenheit mit dem Wald nötig sei, welche jeder mit diesem Willen erreichen kann. Eigentlich würde ich annehmen, dass es eine unter Druiden und Hexen durchaus verbreitete Eigenschaft sein könnte."

GH

"Du meinst also, man macht sich mit dem Wald bekannt, lebt mit ihm, lässt Zuneigung und Verbundenheit wachsen und lernt dabei allmählich, die unterschiedlichen Laute der Bäume zu unterscheiden?" fragt der kleine Mann eifrig nach. "So, wie man sich auch mit der Zeit mit der Seele eines Haustiers vertraut macht? Oder auch eines Buches?"

OHH

Vom Treppentische her vernimmt Feledrions feines Ohr Vinizarahs Erwähnung von Firnelfen, allerdings fehlt ihm jeglicher Zusammenhang sowie die Annahme, dies sei in irgendeiner Weise besonders bemerkenswert. Besser, er konzentriert sich weiter auf seinen Hörer.
Dessen Folgerungen scheinen zwar ein wenig vereinfachend, treffen andererseits jedoch durchaus vollkommen zu. Strenge oder Übergenauigkeit helfen bei der Vermittlung von Erkenntnissen selten weiter. "Gewiss." Mehr war nicht gefragt, und es scheint angebracht, dem kleinen Menschen ein wenig Zeit für seine Gedanken zu lassen und ihn nicht mit vielleicht störenden Eindrücken durcheinanderzubringen.

GH

Der Mann in der Farbe des Waldes sinnt einen Augenblick und schaut vor sich hin. Dann nimmt er aufs Neue sein Gegenüber in den Blick. "Und wenn ich solcherart mit ihm lebe, macht sich der Wald denn auch mit mir vertraut und lernt mich kennen? Die Frage mag dir vielleicht kindlich erscheinen. Aber mit einem Haustier findet man ja erst auf diese Weise Gemeinschaft, indem es sich an einen gewöhnt und nach und nach immer besser einschätzen kann. Und selbst mit den Büchern scheint es mir so, dass sie mit der Zeit immer mehr Antworten auf meine Fragen geben, ganz sicher auch deswegen, weil ich mich immer genauer in sie eingelesen habe. Meinst du, solch eine persönliche Beziehung ist nicht nur mit einzelnen Bäumen, sondern einem ganzen Wald möglich?"

OHH

Ein leichtes seitliches Neigen des Hauptes mag andeuten, dass der Elf auf die erste Frage nicht mit bloßem Ja oder Nein antworten möchte. Dann tritt die zweite in den Vordergrund, dennoch sind beide gemeinsam behandelbar.
"Glaubst du denn, der Wald habe ein gemeinsames Wesen oder gar Bewusstsein? Hat dies eine Stadt? Nach meiner Beobachtung wohl eher nicht. Im Zweifelsfalle wirst du dich mit jedem Strauch und jeder Hummel einzeln anfreunden müssen." Wieder schmunzelt er.

GH

"Hmm", lässt der Mann in den besten Jahren verlauten, "das hört sich nach einer recht langwierigen Arbeit an." Er lächelt kurz in sich hinein.
"Doch da du von Hummeln sprichst. Was ist mit Wespen-, Bienen- oder Ameisenvölkern? Woher wissen die alle gleichzeitig, wohin die Reise geht? Was ist mit den Schwärmen von kleinen Vögeln, die sich innerhalb eines Augenzwinkerns sämtlich in die gleiche Richtung wenden? Was mit den pfeilgeschwinden Fischschwärmen draußen im Meer, die sich bewegen, als seien sie ein einziger großer Körper?"
Kurz reibt er sich das Kinn. "Ich bezweifele gar nicht, dass wir Aufrechtgehenden wohl meist jeder für sich ein eigenes Bewusstsein haben. Doch was ist mit solch kleinen Dingen, wie ansteckendem Gähnen? Oder überspringendem Kindergeschrei? Vielleicht ist uns das Gemeinsame nur oft nicht so bewusst?"

OHH

Mit wissendem Schmunzeln lauscht der Elf den Ausführungen und Fragen. Als sie geendet haben, erwidert er urgroßväterlich: "Ich spreche nicht die Sprache jedes der erwähnten Wesen. In all den Beispielen scheint es mir dennoch eine Verständigung des einen mit dem anderen, und sei es vermittels einer Geste. Im Schwarm hört ein jeder auf seinen Nachbarn, dem er blind vertrauen muss, um nicht mit ihm oder einem dritten zusammenszustoßen. Dies hat zudem sehr schnell zu geschehen."
Obgleich Feledrion weiterhin gerade und doch entspannt auf seinem Stuhle sitzt, mag die jüngste kleine Veränderung in seiner Kopfhaltung auf ein Nachsinnen und die Wendung zu dem nächsten Teilthema hinweisen: "Nur jener wird mitgähnen, der bereits die Müdigkeit in sich trägt."

GH

"Hmm", gibt der Silberlockige erneut zur Anwtort. Langsam und nachdenklich fährt er fort: "Und woher kommt dieses blinde Vertrauen, das jeder dieser, sagen wir, tausend kleiner Vögel oder dreißigtausend Fische in sich trägt? Beruht es darauf, dass jedes einzelne Wesen in diesem Schwarm so gute Erfahrung mit diesem Vertrauen gemacht hat, dass es jedes für sich und alle zusammen trägt? Ist es etwas Eingeübtes oder durch Erfahrung Gewachsenes? Beruht es auf Kenntnis der Anderen in jener Gruppe?"
Tief atmet er ein und überlegt weiter: "Oder ist gerade das Vertrauen nicht doch etwas wie eine Urkraft, die alle diesen Wesen womöglich von Anfang an gemein ist - was dann in gewisser Weise einer gemeinsamen Fähigkeit, wie soll ich sagen, einem... Schwarm-Wissen nahe kommt?"

OHH

Feledrion nickt bedenkend. Dann erwidert er in seiner langsamen Art: "Gewiss, es mag all dies gemeinsam eine Rolle spielen - und noch mehr. Denn wer im Schwarm nicht vertraut oder andererseits die falschen Signale gibt, wird möglicherweise nicht lange überleben." Ein Umstand, welcher dem Elfen nicht nur selbstverständlich, sondern gar angenehm zu sein scheint.

GH

Die Augen des kleinen Herrn blitzen auf. "Das ist wahr und wirklich interessant", bemerkt er, "denn es passt zu meiner eigenen Beobachtung. Je mehr Dinge jemand besitzt, die ihm eine Sicherheit zu geben scheinen, auch allein zu überleben... desto misstrauischer wird er oder sie. Vertrauen ist also offenbar nicht weniger als eine Überlebensnotwendigkeit."

OHH

Möglicherweise bezieht sich der Mensch nicht allein auf körperliche Dinge mit seiner Vermutung, sondern auch auf Sachverhalte oder Fertigkeiten. Zu letzteren kann jedoch auch die Klugheit zählen, das Erkennen von Zusammenhängen.
"Solange es kein blindes Vertrauen ist, sondern eines, welches auf fruchtbarem Boden heranwuchs. Denn leider lehrt das Leben, dass selbst etwas Schönes oder harmlos Wirkendes dein Feind sein kann."

GH

Kurz legt sich die Stirn des Silberhaarigen in Falten. Und nach einigen ruhigen Atemzügen antwortet er mit einem Nicken: "Ich denke, dass Vertrauen und Wachsamkeit Geschwister sind, die miteinander Hand in Hand gehen. Wer echtes Vertrauen gefühlt hat, wird darüber mit warmem Herzen wachen, wie eine Schwester über ihren blinden Bruder." Dies ist der Schatz, den er in seinen langen Arbeitsjahren gehütet hat. Nicht die starren Münzen in Schatullen und Truhen, nicht die unbeweglichen Zahlen in seinen Büchern. Sondern das lebendige Vertrauen, das mit ihnen verknüpft war.

OHH

Es dauert einen winzigen Wimpernschlag, bis der Elf freundlich nickt. "Gewiss, üblichereise wirst du recht behalten. Leider gibt es bisweilen Menschen und andere Wesen, welche solches Vertrauen aufsaugen und schließlich missbrauchen. Bisweilen sind es gar Situationen, welche täuschen oder umschlagen können, ohne dass jemand daran handelnd Schuld trägt, denn eine endgültige Sicherheit kann es niemals geben. Hier greift die Wachsamkeit."

GH

Dem Mann in den besten Jahren bleibt nichts anderes, als nun seinerseits dem Elfen zuzustimmen. "Am Ende bleibt es dann wieder unsere Wahl, ob wir den guten Glauben an das Leben behalten wollen.
Auch die größte Wachsamkeit ist nicht gegen Überlistung gefeit. Denn immer kann es solche geben, die noch ausgefuchster sind, als man selbst. Zwei Male habe ich das selber erleben müssen. Ein kurzer Mangel an Aufmerksamkeit, ein paar Stunden Nachtschlaf zu wenig, ein Quentchen Idealismus zuviel oder eine allzu gute Täuschung auf der Gegenseite - und schon bleibt einem nichts anderes, als selbst den Kopf für den entstandenen Schaden hinzuhalten. Den Göttern sei Dank war es da aber das Vertrauen derjenigen, für die ich arbeitete, das mich aus diesem Sturm geborgen hat. Deswegen habe ich an meinem guten Glauben festhalten können."
Einen Moment sinnt er dankbar. "Darüber bin ich froh. Denn ein Leben, eingezwängt in Bitterkeit und Misstrauen - das wäre nichts für mich. Allerdings wird nicht allen diese Wahl so leicht gemacht, wie mir."

OHH

Mitfühlend schmunzelt der Elf auf den Menschen hinab. "Gewiss, solches kann sehr enttäuschen. Es mag bisweilen helfen, sich zu fragen, wie man sich denn verhalten würde, wenn man genau um die bösen Absichten des anderen wüsste. Kann ich etwas tun, das für den besten wie den schlimmsten Fall gleichermaßen geeignet ist? Wie bleibe ich mir selbst treu? Welche Erwartungen hege ich, und sind diese überhaupt gut für mich?"

GH

"Hmm", erwidert der Mensch zum wiederholten Male, was ihm immer jeweils eine kleine Zeit zum in sich Hineinfühlen lässt - was in diesem konkreten Fall besonders bedeutsam ist. Denn hier geht es darum, ehrlich in sich hineinzuhören, wie er mit seinen Enttäuschungen umgegangen ist. Kein einfaches Gebiet.
"Mir hat es oft geholfen, mir den Menschen hinter seiner Handlung vorzustellen, sein Inneres. In gewisser Weise habe ich das die ganze Zeit geübt, rein schon, um die Freude an meiner Arbeit zu erhalten. Sich vierzig Jahre lang mit Zahlen und Rechenaufgaben zu beschäftigen, während draußen das spannungsvolle und abenteuerliche Leben seinen Gang geht, ist alles andere als leicht für mich gewesen. Ich hatte die Aufgabe, die Gelder zu verwalten, mit denen andere bezahlt wurden. Dafür, dass sie zur See fuhren, dass sie reisten, um zu handeln, dafür dass sie Verhandlungen mit Angehörigen der unterschiedlichsten Kulturen führten. Ich habe bei meiner Arbeit mit den Zahlen stets versucht, mir Bilder dieser Menschen, ihrer Tätigkeiten und ihrer Familien vor das innere Auge zu rufen. Das hielt mich selbst lebendig.
Und es hat mir auch bei den Enttäuschungen, denen ich ausgesetzt war, einen Dienst geleistet. Natürlich waren da zuerst das Erschrecken, die Wut, die Trauer und die Furcht, die in mir hochstiegen. Die habe ich mir abgelaufen, in unzähligen Meilen Wanderung. Am Meer geht das gut. Und wenn das Schlimmste fortgeschwemmt und weggeblasen war, habe ich, so gut ich wusste und konnte, mir die Geschichte derjenigen vor Augen gemalt, mit denen ich jene Enttäuschungen erlebt habe. Habe mit ihnen in meinem Inneren gesprochen, sie befragt, und ihnen auch gesagt, was ich nicht verstehe und nicht verstehen will. Auch das kann man beim einsamen Herumstreunen tun. Und manchmal, gerade weil ich versucht habe, mit mir und den Anderen ehrlich zu sein, habe ich so etwas wie eine Antwort verspürt, wenn auch nicht unbedingt eine Versöhnung, so doch ein kleines Stückchen mehr Verstehen."
Herr Tellicherri spürt die Trockenheit seines Halses nach dieser langen Rede. So viel am Stück hat er zuletzt beim Abschied von seiner Arbeit geredet. Sollte es nicht eigentlich Tee und Eier mit Speck geben?

OHH

Faszinierend. Dieser Mensch trägt für seine Gattung eine hohe Weisheit in sich, obgleich er sein Leben doch verschwendet zu haben scheint. Doch dies war wohl kein Vorsatz, sondern es ergab sich mutmaßlich aus dem dichten Netz zwischenmenschlicher Zwänge. Und er hat das Bestmögliche daraus zu gestalten versucht.
Vielleicht sollte man ihm dies sagen, so bekümmert, wie er wirkt. Andererseits... "Warum hast du dies vierzig Jahre so gehalten, wenn es dich doch so bedrückte?" Wer hat ihn gezwungen? Er sich selbst?

GH

Der rundliche Herr lächelt; milde, ein wenig wehmütig und doch versöhnlich. "Ich glaube, ich konnte es so halten, weil mir bewusst war, dass ich eine Wahl hatte. Im Innersten bin ich überzeugt davon, dass die Wege, für die man sich im Leben entscheiden kann, sich gleich sind, was ihre Schwere betrifft. Mancher Pfad, den man einschlägt, scheint am Anfang verlockend leicht zu sein, doch ab einer gewissen Zeit zeigen sich die Hindernisse, die man zu umgehen trachtete, in aller Deutlichkeit. Und manchmal muss man am Anfang Mauern aus Verzicht überwinden, doch wenn es geschafft ist, spürt man eine innerliche Freiheit. Meine Wahl war verhältnismäßig einfach. Mein Vater hatte meine Mutter und mich verlassen, um Abenteuer und Freiheit zu finden. Dennoch weiß ich aus allen seinen Briefen und Hinterlassenschaften, dass er damit nie ganz glücklich geworden ist."
Die Stirn des Silberlockigen legt sich in Falten. "Ich selber habe als junger Mann sehr eingehend überlegt, ob ich ihm in seiner Spur folgen sollte. Ein abenteuerliches Leben führen. Und dann las ich hinter allen Zeilen, die er schickte immer aufs Neue die zweifelnde Frage: 'Was wäre geschehen, wenn ich geblieben wäre?' Mir wurde klar, dass auch mich diese Bangigkeit begleiten würde. Und deswegen entschied ich mich schließlich, den anderen Weg zu gehen. In der Nähe meiner Mutter zu bleiben und mir dennoch ein eigenes Leben aufzubauen, so gut es ging. Ich wusste, der Verzicht würde mich auch dort einholen. Aber aus Papas Briefen wusste ich so ungefähr, auf was ich verzichtete. Wie das in gleichmäßiger und ruhiger Hingabe an die Arbeit gelebte Leben aussehen würde, das wusste ich nicht. Es zu probieren, war meine Art, mich an Neues zu wagen. Und es hat auch seine guten Seiten. Vielleicht gleicht es mehr dem langsam fließenden Fluß als dem sprudelnden Bach, den mein Vater als sein Leben kannte. Ich traf keine bessere Wahl als er - sondern eine andere. Und jetzt, im Unruhestand habe ich noch ein wenig Zeit bekommen, mich im Befahren schneller und spannender Gewässer zu üben, ehe ich das Meer erreiche." In der Heiterkeit dieser Aussicht entspannen sich seine Züge.

OHH

In der Tat, auch dem Elfen sind jene menschengemachten Gleichnisse vom Scheideweg und der Entscheidung zwischen dem leichten und dem schwierigen Wege hinreichend bekannt. Er hält sie für dummes Zeug, denn die Schwierigkeit eines Weges erkennt man nicht, wenn man an seinem Beginn steht - es sei denn er wäre übersichtlich kurz. Dies ist so selten der Fall wie ein Gleibleiben der Bodenbeschaffenheit.
Zum Schlusse der Rede lächelt Feledrion warm und ein wenig mitleidig. "Glaubst du, dass ein Weg derselbe bleibt, wenn ein zweites Wesen dem ersten im Abstand folgt? Das Wetter schwingt um, man begegnet anderen Lebewesen und anderer Jahres- oder Tageszeit. Da mag es sein, dass man bald gar vom Wege des Vorgängers abweicht. Dennoch darf man deine Wahl als eine richtige für dich erkennen, weil du damit zufrieden bist. Dies ist das einzige, was letztendlich zählt." Zum ersten Mal seit er sitzt, lehnt sich der Elf nun an. Dennoch hätte man kaum glauben wollen, dass sich seine anscheinende Entspanntheit noch steigern ließe. "Suchst du etwas Bestimmtes am Meer? Das Meer selbst vielleicht?"

GH

"Oh, das glaube ich niemals, dass der Weg derselbe bleibt", antwortet der kleine Herr. "Jeden Tag, an dem ich zu meiner Arbeit gegangen bin, sah der Weg durch die Stadt anders aus. Obwohl es der gleiche Weg war." Er lächelt.
"Wohl aber glaube ich, dass ich auf keinem Weg vor mir selbst weglaufen kann, noch vor den Fußpuren, die andere dort hinterlassen haben. Denn die Fußspuren des Lebens sind tiefer als die flüchtigen unserer Füße. Die wäscht kein Regen aus. Und wenn Zufriedenheit das Wichtigste ist, dann hat mein Weg gut gehalten."
Nun lehnt sich auch Herr Tellicherri zurück. Die Aussicht auf das große Wasser löst auch ihn. "Was ich am Meer suche? Womöglich das, was mir noch fehlt", sinnt er mit über dem runden Bauch gefalteten Händen. "Denn da soll man ja so allerlei finden."

OHH

In jedem Falle hat dieser Mensch sich viel Zeit genommen, über sich und die Welt nachzudenken. Dies verdient einmal mehr anerkennendes Nicken des Elfen. "Demnach weißt du, was dir fehlt?" Es ließe sich vieles erspekulieren, aber was würde solches wohl anderes einbringen als dieselbe Unklarheit?

GH

"Hmm", ein kindliches, fast spitzbübisches Lächeln spielt um die Lippen des Unruheständlers. "Weiß die Raupe, was ihr fehlt? Was ahnt die Kaulquappe vom Land oder das frischgeschlüpfte Küken vom Fliegen?" Vergnügt rollt der Mann in den besten Jahren seine Daumen.
"Da wäre ja auch das schönste Abenteuer nichts mehr wert, wenn man den Ausgang schon ahnt. Ich mache gerade meine erste längere Reise. Und finde es aufregend, mir das Ziel vorzustellen und doch nicht zu wissen, wie es aussieht. Meine Ankunft hier gestern abend war eine wundervolle Überraschung für mich. Meine Ahnungen wurden übertroffen. Und so, hoffe ich, wird es auch, wenn ich am großen Ziel am Strand der Zeit ankomme. Ich ahne, es wird eine Verwandlung für mich geben. Und dann wird sich die Tür für die nächste Reise öffnen. Aber wer ich dann sein werde, das will ich jetzt noch gar nicht wissen. Sondern mich stattdessen auf die nächste Überrachung freuen."

OHH

Ein Nicken genügt eigentlich vollauf, des Elfen Zustimmung und Erfolgswünsche auszudrücken. Dennoch lässt er sich nach einer Pause zu einer Ergänzung verlocken: "Niemand kann mehr tun, als sich vorzubereiten. Die Welt verläuft nicht nach einem Plan."

GH

"Nicht nach einem Plan", bekräftigt der kleine Herr, "und wenn doch, dann möglicherweise nicht nur nach einem Plan."
Er blickt sich um und dann zurück zu seinem Tischnachbarn. "Apropos: War es nicht geplant, dass wir Frühstück bekommen sollten? Wenn man so die ganze Welt betrachtet, wie wir das tun, macht das hungrig. Sollten wir vielleicht mal nachfragen?"

OHH

Gewiss, der Pläne sind so zahllos wie es die Lebewesen der Welt sind. Da sich diese notwendig widersprechen müssen, kann das Ergebnis nur zufällig sein.
Doch es wird kein Kommentar hierzu erwartet, sondern eine Frage gestellt, zu welcher Feledrion leider weniger Sicheres zu äußern vermag: "Es mag sein, dass wir dies tun sollten."

GH

Hmm. Der kleine Herr schaut auf und sieht, dass der Wirt momentan ein sehr begehrter Mann ist. Da heißt es, sich noch etwas zu gedulden. "Ich kümmere mich drum", sichert der Hungrige dem Elfen zu und richtet den Blick in Richtung des Hausherren. Eindringlich, doch nicht etwa aufdringlich.

NW

Als Tesden bei der Dame ankommt, fängt er auch den Blick des Gastes auf, der am Tisch mit dem Elfen zusammensitzt. Er nickt ihm kurz zu und fragt dann sein Gegenüber: "Guten Morgen, wünsche wohl geruht zu haben. Womit kann ich Euch dienen?"

OHH

In geduldig stiller Erwartung beschaut der Elf nun das Geschehen am Nachbartische, da es auch seinen Gastgeber optisch dorthin verschlagen hat. Alte Menschen. Ihrer scheinen im Moment besonders viele zugegen. Eie Bedeutung dahinter sucht Feledrion nicht.

GH

Dankbar nimmt der kurzgewachsene Gast die ebenso kurze Aufmerksamkeit des Wirtes zur Kenntnis und erwidert diese mit einem ebenfalls freundlichen und geduldigen Nicken. Nun wird es gewiss nicht mehr lange dauern. Geduld ist eine schöne Tugend, doch sein Essen bald erwarten zu dürfen, noch schöner.

NW

Tesden wendet den Schritt zunächst zu dem älteren Mann, der auch um seine Aufmerksamkeit geheischt hatte. "Guten Morgen, die Herren. Was darf ich hier bringen?"

GH

"Euch auch einen guten Morgen, Meister Tesden!" Der kleine Herr lächelt dem Wirt fröhlich und ein weiteres Mal an diesem Vormittag entgegen. "Wir freuen uns auf zwei Portionen gerührte Eier mit Speck und Brot. Unsere Bestellung habt Ihr der Küche schon mitgeteilt. Da Eure tüchtige Köchin so viel zu tun hat, wollte ich nur sicherheitshalber und wahrscheinlich völlig unnötigerweise an uns erinnern."

NW

Bei Herrn Tellicherris Worten blickt sich Tesden unauffällig um. Hat er mit den vielen Eierbestellungen etwas durcheinandergebracht?
"Ich werde gleich mal nachsehen", teilt er dem Gast aber mit einem freundlichen Lächeln mit. "Ist sonst alles zu Eurer Zufriedenheit?" Der Blick wandert bei dieser Frage auch zu dem Elfen am Tisch.

OHH

Jener hat bislang nur friedvoll und geduldig gelächelt, nun nickt er dazu. Für ihn gibt es keinen Anlass zur Klage, ist er doch vor allem des Gespräches wegen an diesen Tisch gekommen, womöglich gar vor allem deswegen bereits gestern in dieses Haus, wenngleich sich hierfür weitere Gründe finden lassen.

GH

"Ja", antwortet Herr Tellicherri dem Wirt mit einem ehrlichen Lächeln, "es ist alles so wunderbar, wie es nur sein könnte. Ihr führt ein ausgezeichnetes Haus. Und sollte unser Frühstück noch nicht bereitstehen, lasst Euch mit meiner Portion gerne noch einen Augenblick Zeit, dann gehe ich hinaus, um mich frischzumachen. Wenn es dir recht ist." Der letzte Halbsatz gilt mit einem begleitenden Blick dem elfischen Tischnachbarn.
Dann fasst der rundliche Mannn wieder den Hausherrn ins Auge. "Sollte dagegen alles nur noch auf's Servieren warten, dann freue ich mich nach dem herrlichen Huhn gestern abend auf weitere Köstlichkeiten."

OHH

Wiederum nickt der Elf. Ihm ist alles recht, denn wenn der Hunger größer wäre, hätte er sich wohl nicht in den Schankraum, sondern eher in den Wald begeben.

NW

"Gut, dann gehe ich gleich mal schauen", versichert der Wirt und macht sich auch direkt auf den Weg Richtung Küche.

GH

"Ist recht", gibt der Mann in den besten Jahren dem bereits entschwindenden Wirt noch mit auf den Weg.
Dann wendet er sich an seinen elfischen Tischgenossen. "Wenn's dir nichts ausmacht, bringe ich dann vor dem Essen noch eben mein Handtuch zurück an seinen Platz, und hole uns Besteck." Und damit erhebt er sich bereits.

OHH

Was sollte dies dem Elfen ausmachen? "Gewiss", beruhigt er freundlich mit einem Nicken. Es wird genug zu beobachten oder draußen zu lauschen geben. Darüber hinaus sind da noch die eigenen Gedanken, welchen man selbst in einer dunklen Höhle nachhängen könnte. Ein Bild, welches er nun lieber einem gedachten Zwergen aushändigt, indem er wieder den Aufstehenden fixiert.

GH

Das Handtuch in der Hand, an dem Tisch mit der Dame vorbeikommend, nickt der rundliche Herr dieser zu mit einem freundlichen "Guten Morgen." Dann hält er sich ein wenig nach links und kommt nach kurzer Zeit an dem nahe der Treppe gelegenen Ende des Tresens an, wo noch immer freundlich und bescheiden seine Truhe verweilt. Behutsam öffnet er den Deckel, nachdem er sich hinabgebeugt hat, und beginnt seine Siebensachen umzusortieren.

OHH

Ein kurzes Weilchen schaut der Elf dem Abgegangenen noch nach, dann wendet er seinen Blick hinaus aus dem nächstgelegenen offenen Fenster, den Ausschnitt der Landschaft im Sonnenschein zu betrachten.

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Redaktion und Lektorat: Oliver H. Herde im Jahre 2019